Hirngespenster (German Edition)
dreier Mädchen war. Weder ihn noch die Kinder schien sie zu vermissen.
Ich sagte: »Anna, du wirst aber weiter in Therapie gehen, wenn du wieder zu Hause bist, das versprichst du mir.«
Sie lachte. »Vielleicht habe ich ja eine Psychose, aber das müssen sie mir erst noch beweisen.«
Ich betrachtete sie kritisch. Wie konnte sie so fröhlich sein? Psychose, ja, meine Liebe. Zwangsneurose mindestens. Keine Nachricht, die mich in Freudentaumel versetzen würde.
Genau eine Woche später war der Freudentaumel auch schon vorbei. Sie war ein heulendes Elend, als ich sie im Besucherzimmer antraf, eine kleine schwache Frau, die an die Anna erinnerte, die im Hausanzug zu Giovanni gefahren war. »Was ist los?«, fragte ich.
»Sie geben mir nicht, was ich brauche! Immerzu soll ich reden! Darüber, dass Matthias mich geschlagen und geschubst hat, und über meine Leukämie. Und über dich und Mama und Papa! Und keine fünf Tabletten am Tag, Silvie, ich will ja weniger davon einnehmen, aber bitte, was soll daran schlecht sein, wenn sie die Panik vertreiben? Alle starren mich an, wenn ich mir beim Mittagessen ein Tablett hole, die rote Grütze so flüssig, dass sie herauslaufen muss, und dann reden und lachen alle über mich. Ich versuche ja, mich zu beruhigen, aber ich zähle und zähle – ich werde noch verrückt!«
»Es redet bestimmt keiner über dich«, versuchte ich sie zu beruhigen, »und lachen tut schon gar keiner, die sind hier doch alle mit sich selber beschäftigt.«
»Genau! Sollen sie sich doch um die kümmern, die es nötig haben! Ich komme schon zurecht, ich weiß, wie viel ich einnehmen muss, damit es mir gutgeht, und ich frage mich, was daran verkehrt sein soll! Kannst du es mir sagen? Ich will nicht mehr zählen!« Sie heulte verzweifelt auf.
»Die Tabletten machen abhängig Anna, das haben sie dir doch erklärt. Es ist nicht der Normalzustand, dass man sie braucht, um keine Angst zu haben oder um nicht zu zählen oder keine Stimmen zu hören! Der Normalfall ist, dass man auch ohne sie ganz gut über den Tag kommt.«
»Was weißt du denn schon davon? Du meinst also, es ist nicht schrecklich, wenn man an der Kasse steht und die Finger zittern so stark, dass man das Geld nicht aus dem Münzfach kriegt. Soll ich dir was sagen, Silvie? Du hast keine Ahnung! Für dich ist immer alles leicht, dein ganzes Leben war's das schon, aber für mich eben nicht! Ich hab das ganze Schlechte abgekriegt, ich hab die Arschkarte gezogen. Und je schlechter es mir ging, desto besser ging es dir! Der Krebs wird mich früher oder später holen, so sieht es aus, und da können die mir alle tausendmal einreden, das wäre nur in meinem Kopf so!«
»Ach Anna«, flüsterte ich und nahm sie in den Arm. Letzte Woche hatte sie diesen Höhenflug gehabt, der mich so optimistisch gestimmt hatte, und jetzt das. Und Jens und ich hatten schon gehofft, es ginge schneller aufwärts als gedacht und ich könne doch bald Johannes verlassen. Vier Wochen wollten wir warten, nachdem die Mädchen wieder bei Anna waren. Ich glaubte, dann könnten meine Eltern sich so weit erholt haben, dass auch ich mal das vermeintliche Sorgenkind spielen konnte. Wir hätten uns in Annas Haus ineinander verliebt, wollten wir sagen. Ein guter Plan, eigentlich. Naja. Das Leben verläuft eben manchmal nicht nach Plan.
Meins schon gar nicht.
Während es bei Anna in der Klinik auf und ab ging, waren die Mädchen bei meinen Eltern untergebracht, und besonders mein Vater meisterte die Situation generalstabsmäßig. Luna war von der Schule befreit worden und blühte sichtlich auf. Sie summte immer weniger, spielte mit Clara und Emma, die sich dank meiner Eltern auch endlich in ärztlicher Behandlung befanden – der Verdacht auf ADHS stand im Raum. Nach ihrer Mutter fragten die Kinder nicht viel, was wir zwar besorgt, aber auch mit Erleichterung zur Kenntnis nahmen.
Bei einem meiner Besuche in der Klinik – es muss in der dritten oder vierten Woche ihres Aufenthalts gewesen sein – fragte Anna mich plötzlich, ob ich eigentlich wisse, wie es dem »Wohltäter« gehe.
»Welchen Wohltäter meinst du?«, fragte ich verblüfft.
»Na, den von der Versicherung, diesen Herrn Reimer, der eine Versicherung aus dem Hut gezaubert hat, obwohl es gar keine mehr gab.« Sie sprach sehr deutlich, ihr Blick war so klar, dass ich mir nicht erklären konnte, wieso sie solch einen Stuss erzählte. Sie konnte doch unmöglich davon wissen! Ich bekam heftiges Herzklopfen. Anna plapperte
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