Hirngespenster (German Edition)
wollte ihn in eine Falle locken. So war das.
Endlich mache ich Fortschritte! Sie wollten ja die ganze Zeit, dass ich damit aufhöre, auf dem Boden herumzurutschen, weil sie das nicht ganz normal finden. Und was ist mir heute zum ersten Mal gelungen? Ich konnte etwa zwei Sekunden lang freihändig auf beiden Beinen stehen! Was sagt man dazu!? Ich war sehr stolz auf mich, wirklich sehr stolz – auf diesen Augenblick habe ich nun so lange hingearbeitet, und endlich war es so weit! Zwar schienen sie dem Frieden nicht allzu sehr zu trauen, besonders Nils und Ole schauten ziemlich skeptisch und hielten Abstand, aber Johannes blickte mich nur bewundernd und sehr liebevoll an. Sabina nahm mich sogar feierlich in den Arm. Dann ließ ich mich wieder in meinen Sitz plumpsen. Ich saß keine zwei Minuten, da nahm Johannes mich wieder bei den Händen und zog mich auf die Füße. Anscheinend kann er nicht genug davon bekommen, dass ich das jetzt alleine kann. »Endlich geht es voran!«, rief er und applaudierte ebenfalls. Ich klatschte auch. Es war einfach zu schön.
Manchmal kommen meine Eltern zu Besuch. Hier nennt man sie »Oma und Opa«. Die beiden wischen sich immer verstohlen die Augen, wenn sie mich sehen. Meistens halten sie Nils und Ole fest umklammert, während sie bei mir auf gebührenden Abstand achten. Das liegt daran, dass ich nicht mehr so auf Körperkontakt aus bin. Ich bin gar nicht mehr so fürs Geknutsche zu haben. Einmal wollte mein Vater mich in den Arm nehmen, aber ich ruderte wie wild mit den Armen, schlug ihm fast ein blaues Auge. Da lachten sie. Manchmal weinen sie auch um mich. Sie tun mir leid. Natürlich muss ich hier bei Sabina und Johannes bleiben, anders wäre es undenkbar. Und weil das so ist, sitze ich dann sabbernd dabei und betrachte mir die Tüte Bonbons oder die Tafel Schokolade, die sie Nils und Ole mitgebracht haben. Die Hersteller haben mal wieder das Design geändert.
Abends, wenn ich dann still in meinem Bett liege, denke ich wieder: Du Volltrottel, warum hast du den beiden nicht begreiflich gemacht, dass sie mal was von Anna erzählen sollen? Es ist zum Verzweifeln.
Als ich Anna auf ihrem Bett vorfand, das Haus in diesem katastrophalen Zustand, da bekam ich fast eine Panikattacke. Wozu ich auch allen Grund hatte, wenn man bedenkt, was in der letzten Zeit mit ihr losgewesen war – diese Fahrigkeit einerseits, andererseits dieser Putzwahn. Und dann das stetige aggressive Verhalten, das Matthias an den Tag legte, und dazu Lunas Äußerungen. Als ich Anna so nackt und mit kahlem Schädel auf dem Bett sitzen sah, glaubte ich für einen kurzen Moment, Matthias habe ihr die Haare abrasiert und halte sie als seine Sexsklavin gefangen. Was man sich eben so denkt in ein paar Millisekunden des absoluten Wahnsinns. »Oh mein Gott, Anna!«, rief ich und stürzte auf sie zu, tastete ihren Kopf ab, als wollte ich mich selbst vergewissern, dass sie nicht eine haarlose Perücke trug – aber ich fühlte nur klebrige Kopfhaut und Haarbüschel. Ihre Fingerspitzen waren mit Pflastern bedeckt – ich wagte gar nicht, sie zu fragen, was damit passiert war. Eilig zog ich die Bettdecke vom Bett und hüllte ihren nackten Körper darin ein. Die ganze Situation war grauenvoll. Luna und Emma weinten, Clara traute sich gar nicht ins Schlafzimmer hinein, ich selbst jammerte wie ein kleines Kind: »Anna, oh Anna, oh nein, oh nein!« Ich wimmerte und plärrte und kramte schließlich mit zitternden Händen nach meinem Handy, um die Polizei anzurufen.
»Was hast du vor?«, fragte Anna plötzlich mit Blick auf mein Handy. Sie schien aus ihrer Starre erwacht zu sein.
»Ich rufe natürlich die Polizei!«, rief ich und wählte schlotternd die 110.
»Warum?«
»Warum?«, fragte ich und unterbrach die Leitung. »Guck dich an, was er dir angetan hat! Meinst du, das lass ich ihm einfach so durchgehen?«
Sie blinzelte irritiert und flüsterte: »Wer hat mir was angetan?«
Ich riss die Augen auf: »Matthias! Oder wer hat dir sonst die Haare abrasiert?«
Anna schnaubte leise. »Nein, Silvie, Matthias will warten, bis sie mir von selbst ausfallen!«
»Aber Anna!«, rief ich verständnislos, »warum sollten sie dir denn ausfallen?«
Sie schluckte und senkte den Blick. Schließlich flüsterte sie: »Weil ich wieder Krebs habe, darum.«
Der Schreck erfasste mich wie ein Stromschlag. Ich sank vor ihr zu Boden, das Handy glitt mir aus der Hand, und ich umklammerte ihre Knie. »Seit wann?«, fragte ich.
»Ich weiß es
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