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Hirngespenster (German Edition)

Hirngespenster (German Edition)

Titel: Hirngespenster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ivonne Keller
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sollte. Nein, sie sei versorgt, sagte sie. Und ich solle nach Hause fahren, Matthias dürfe mich nicht sehen. Ob ich unsere Eltern benachrichtigen sollte, fragte ich noch, doch sie beschwor mich, sie könne sie noch viel weniger gebrauchen, und scheuchte mich regelrecht aus dem Haus.
    Ich fragte nicht mal, warum. Einen vernünftigen Grund dafür konnte es doch ohnehin nicht geben. Und dass Matthias sie gerade jetzt vor mir isolierte, das fand ich unglaublich herzlos. Nur wegen so eines dämlichen Hauses? Wie konnte er ihr das antun? Und nicht nur das – wie konnte er ihr raten, zu warten, bis ihr die Haare von der Chemo ausfielen? Wie herzlos war das denn? Eigentlich hätte ich ihn anrufen müssen, ihn bitten, nach Hause zu kommen, um Anna zur Seite zu stehen. So würde man das machen, hätte man nicht ein solches Arschloch zum Schwager.

Anna
    Nachdem Silvie das Haus verlassen hatte, ging Anna ins Wohnzimmer und betrachtete die Mädchen vor dem Fernseher.
    »Hast du da?«, fragte Clara und deutete auf ihren Kopf.
    »Ich habe keine Haare mehr, weil ich krank bin«, erklärte Anna in sachlichem Tonfall und legte Emma und Clara eine halbe Tablette in den geöffneten Mund.
    Die beiden würden sie heute nicht mehr um den Verstand bringen. Luna beobachtete das Ganze aus dem Augenwinkel und bewegte sich keinen Millimeter, während Anna sich umwandte und – ihren Gedanken nachhängend – begann, das Wohnzimmer aufzuräumen. Es war gar nicht nötig, dass ihre Eltern kamen und sie auch noch durcheinanderbrachten mit ihren Fragen.
    »Kein Grund zur Beunruhigung«, war die Aussage des Arztes gewesen. Bei einer Konisation handele es sich um einen reinen Routineeingriff. Man entnehme einen Teil des Muttermundes, und es sei gut möglich, dass die Sache damit bereits erledigt sei. Doch sie wusste es besser. Nur zu gut erinnerte sie sich an die Anfangszeit ihrer Leukämie, als der Hausarzt zunächst auf Pfeiffersches Drüsenfieber getippt hatte und die Blutuntersuchung eine »reine Vorsichtsmaßnahme« gewesen war. Und dann die sofortige Einlieferung ins Krankenhaus, die unendlich anmutenden Blutentnahmen, die Chemotherapie, nach der sie jedes Mal hatte sterben wollen. Und die Todesangst, die sie aufs Fensterbrett getrieben hatte. Mit dem Ergebnis, dass sie auch noch zum Psychiater musste und in ein neues Zimmer kam, mit Gittern vor dem Fenster. Und Silvie hatte sie wahnsinnig gemacht mit ihrem unerschütterlichen Optimismus und ihrer Scheinheiligkeit. Immer fröhlich, lalala! Eine feine Schwester war sie, dabei wusste Anna ganz genau, was hinter ihrem Lachen steckte.
    Anna lief ins Schlafzimmer und griff sich eine Tablette aus ihrem Nachttisch. Diesmal war Silvie das Lachen vergangen. Sie hatte sogar geweint – um ihr Haar zwar, aber immerhin. Ganz im Gegensatz zu Matthias' Reaktion auf die Arztdiagnose. Am Samstag erst war sie in der Lage gewesen, ihm davon zu erzählen, und hatte ihn gebeten, sich ausnahmsweise um die Wochenendeinkäufe zu kümmern, weil sie sich ein wenig schonen wollte. Musste.
    »Ich dachte, ich hätte eine gesunde Frau geheiratet«, hatte er sie entgeistert angesehen. »Warum hast du mir nie erzählt, dass du mal Leukämie hattest, das ist doch eine Information, die man gerne hätte, bevor man jemanden heiratet«, hatte er kopfschüttelnd gemurmelt.
    »Information?«
    »Ja! Information, Auskunft, Hinweis! Aber nein, das ist das Erste, was ich höre! Und die Gefahr, dass man wieder Krebs kriegt, die ist doch hinreichend bekannt!«, hatte er gerufen.
    Sie hatte sich setzen müssen. »Du hättest mich also nicht geheiratet, mit dieser ›Information‹?«
    »Jetzt dreh mir doch nicht die Worte im Mund rum, verdammt noch mal!«, hatte er geschrien. »Ich hätte es einfach nur gerne gewusst! Mein Gott, Anna, wenn ich gewusst hätte, dass mit so was eines Tages zu rechnen ist …« Plötzlich hatte er geächzt: »Sag mal, verlierst du dann auch alle Haare oder was? Ich meine, wie stellst du dir das vor, Anna? Was sollen die Leute denken, wenn du kahlköpfig rumläufst, und überhaupt, wenn meine Kollegen davon hören, dass du Krebs hast, das ist … echt …, die Geschäfte laufen sowieso schon beschissen.« Fassungslos hatte er den Kopf in die Hände gelegt und gestöhnt: »Das jetzt auch noch!«
    In Annas Magen hatte sich während seines Ausbruchs ein Rudel Aale eingenistet. Alles, was sie gehört hatte, war noch viel schlimmer als die Diagnose selbst. Kein Mut machendes Wort von ihrem eigenen Mann. Kein

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