Hirngespenster (German Edition)
seit Freitag«, wisperte sie. »Gebärmutterhalskrebs. Sie haben es nach einem Kontrollabstrich festgestellt. Jetzt muss ein Teil des Gebärmutterhalses entfernt und eingeschickt werden, und wenn es schlimm ist, dann bekomme ich sofort eine Chemo. Und was das heißt …« Ihr versagte die Stimme.
»Aber Moment!«, rief ich. »Dann weißt du also gar nicht, ob es so kommt! Vielleicht erwischen sie alles, oder es war doch kein Krebs und du hast dir völlig umsonst die Haare abrasiert!«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es aber. Ich bin so der Typ … für Krebs.«
Ich hatte selten so einen Schwachsinn gehört. Ein Typ für Krebs? Eher ein Typ fürs Schwarzmalen. »Anna«, sagte ich beschwörend, während ich mich wieder vom Boden aufrappelte, »ich glaube, es gibt verschiedene Stufen bei diesem PAP-Abstrich. Welche Stufe hattest du?«
»Die vierte.«
Soweit ich informiert war, gab es fünf, und die vierte war die Stufe, bei der man lediglich einen Verdacht auf ein sich entwickelndes Karzinom hatte. Das erklärte ich ihr und beschwor sie wieder: »Das muss also gar nichts heißen! Jetzt warte doch erst mal ab, was die Gewebeprobe bringt. Und bis dahin, na, da musst du dich zusammenreißen, du machst den Kindern doch Angst mit deinem Verhalten! Und wie's hier aussieht, das … kenne ich gar nicht von dir!«
Sie hob die Schultern und schüttelte wieder ihren zerrupften Schädel, von dem ich kaum den Blick wenden konnte. »Es sind die Kinder, Silvie!«, rief sie plötzlich. »Emma und Clara sind wie Affen. Wenn sie sich an eine Lampe hängen könnten, würden sie auch das tun. Sie bringen alles in Unordnung, sobald ich ihnen den Rücken kehre!«
Das waren Neuigkeiten. Und ich hatte jahrelang geglaubt, Anna halte immer alles picobello. Aber andererseits, Emma und Clara hatten wohl kaum heute so viel Geschirr schmutzig gemacht und in die Spüle gestellt. Das, was dort stand, stammte von Tagen.
»Dann nimm dir eine Putzfrau!«, riet ich. »Oder hol die Kinder später aus dem Kindergarten ab, damit du mehr Freiraum hast!«
Sie schnaubte gehässig. »Ich arbeite doch nicht, Silvie. In unserem Kindergarten gibt es kaum genug Mittagessensplätze für die Kinder der Berufstätigen. Ich bekomme keinen Platz über Mittag für die beiden, ohne dass ich einen Nachweis von einem Arbeitgeber habe. Und eine Putzfrau – die zahlt mir Matthias nicht. Der meint doch, ich hätte ohnehin viel zu viel Zeit! Der kommt abends heim und findet alles aufgeräumt vor, der lacht sich kaputt, wenn ich ihm mit einer Putzfrau komme! Es war unsere Abmachung, dass ich mich um die Kinder kümmere und er um das Geld …« Abrupt unterbrach sie ihren Satz. »Aber … ach, egal.«
Ich betrachtete sie neugierig. »Was?«
Sie schüttelte wieder den Kopf. »Nichts.«
»Stimmt was nicht mit Matthias' Arbeit, oder was?«
Sie schluckte und griff sich mit beiden Händen an den kahlen Schädel. Dann flossen wieder die Tränen. »Ich habe wieder Krebs«, schluchzte sie. »Was soll ich nur machen, Silvie, ich habe wieder Krebs.«
Krebs. Das vertraute Gefühl der Angst im Magen stellte sich ein und machte es sich wieder bequem. Ich hatte keine Ahnung von Gebärmutterhalskrebs. Hatte man den im Griff, oder gehörte er zu den tödlich verlaufenden? Ich strich ihr über den Rücken und versuchte, sie zu überzeugen, dass noch nicht das letzte Wort gesprochen sei, dass sie es gar nicht definitiv wisse, ob sie überhaupt krank war. Nach einer Weile konnte ich sie überreden, sich etwas anzuziehen und mit mir ins Bad zu kommen, wo noch die Reste ihrer Haare am Boden lagen und Blutspritzer auf dem Wannenrand prangten. Ich platzierte sie auf dem Toilettendeckel und rasierte ihr zaghaft mit dem Elektrorasierer die restlichen Büschel vom Kopf, so gut es ging. Immer wieder lugten die Mädchen zur Badezimmertür herein und flüsterten miteinander. Mir liefen Tränen über die Wangen, und ich streifte sie mit dem Oberarm vom Gesicht, während der Rasierer seine Bahnen fuhr. Wie konnte Anna sich selbst das antun? Nun sah sie wirklich wie eine Krebskranke aus, doch merkwürdigerweise betrachtete sie sich fast gefällig im Spiegel. »Sie sind ab«, sagte sie.
Fast hatte ich den Eindruck, als wollte sie krank sein.
Ich erklärte den Mädchen, die Mama hätte eine Krankheit am Kopf, nichts Schlimmes, doch ich musste vorsorglich ihre Haare abrasieren. Dann band ich Anna ein Tuch um den Schädel und fragte sie, ob ich ihr Baldrian besorgen und das Haus aufräumen
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