Hirngespenster (German Edition)
Kinder, Frau Ziegler, bitte sprechen sie mit ihr.« Dabei war Anna stolz darauf, dass Luna so musikalisch war und so viel Freude an der Musik hatte. Leise öffnete sie die Tür, warf einen vorsichtigen Blick hinein und betrachtete ihre Tochter, die mit dem Rücken zu ihr an ihrem Schreibtisch saß und summend malte; der Stift in ihrer Hand tanzte über das Blatt Papier. Kurz sah sie nach ihr, brachte ein paar Dinge auf dem Schreibtisch in Ordnung und erklärte Luna, dass man ein wenig Ordnung halten musste. Wirklich, ein wenig Ordnung musste doch sein, kein Grund für Tränen. Danach schloss Anna die Zimmertür und machte sich auf den Weg zum Bad. Nur dort noch aufräumen, Matthias kam bald nach Hause. Ihr Schädel war kahl, bald würden die Augenbrauen folgen. Und wenn sie so darüber nachdachte, dann war es gar keine schlechte Idee, sich diese gleich auch noch abzurasieren.
In letzter Zeit bin ich super gut drauf. Das mag daran liegen, dass ich mich mittlerweile einigermaßen mit meiner Situation arrangiert habe, aber vor allem liegt es daran, dass mir mehr und mehr gelingt! Es liegt an meinem Muskelaufbau. Zum Beispiel kann ich jetzt vollkommen frei sitzen, ich kann mich nach vorne beugen und nach meinem Essen greifen, und wenn auch mal etwas zu Bruch geht – man ermuntert mich tapfer weiter. Auch das Stehen klappt immer besser. Doch je weiter ich körperlich vorankomme, desto stärker bin ich von meinen eigentlichen Plänen abgelenkt, die allabendlich in meinem Kopf herumgeistern. Das mit den Büchern zum Beispiel. Ich müsste nur in einem unbeobachteten Moment zum Regal hinrutschen und mich hochziehen. Aber sobald der Tag anbricht, mit all seinen neuen Herausforderungen und Ablenkungen, dann ist mein Plan vom Abend vorher aus meinem Gehirn wie ausradiert! In letzter Zeit bin ich daher dazu übergegangen, am Abend noch mal nach ihnen zu rufen, und anfangs kamen sie auch und fragten besorgt, was los sei. Was ich natürlich nur mit einem unkontrollierten Geschnatter beantworten konnte. Inzwischen ignorieren sie mich. »Lass sie brüllen«, heißt es. Obwohl ich mitkriege, dass Sabina immer wieder mal zur Tür hereinschielt und zögert, was sie tun soll. Johannes hält sie zurück und meint, sie dürfe nicht weich werden. Dabei bräuchten sie mich nur noch mal aus meinem Zimmer zu lassen, und dann könnte ich die Bücher holen – vorausgesetzt, ich fände eines, in dem Annas Name steht. Was nicht so leicht herauszufinden ist, wenn man bedenkt, dass die Schmierereien in den Büchern mir keinerlei Aufschluss darüber geben werden, welcher Name dort steht. Früher konnte ich lesen, heute leider nicht mehr. Und Sabina immerzu mit ihrer Aufräumerei. Tu dies nicht, tu das nicht. Naja, ich an Sabinas Stelle hätte den Job schon längst an den Nagel gehängt, sie hat genug damit zu tun, die Jungs zu erziehen – auf mich hören sie überhaupt nicht mehr. Manchmal rechne ich fest damit, dass sie mich in ein Heim steckt, besonders wenn was zu Bruch gegangen ist, weil ich es halt noch nicht so auf die Reihe kriege mit der Feinmotorik. Und wenn sie dann dasitzt, den Kopf auf dem Tisch ablegt und seufzt, dann denke ich: Jetzt hat sie die Schnauze voll, jetzt gibt sie mich weg. Aber das ist Quatsch, es ist nur die chinesische Vase, die ich umgestoßen habe, und Sabina sieht irgendwann auf und sagt mit einem gequälten Lächeln: »Endlich ist es hin, das hässliche alte Ding.« Und wenn ich mich selbst kaum beruhigen kann von dem Schrecken, kommt sie zu mir und tröstet mich noch. Dann fühle ich mich wirklich wie ein Kind in Mamas Arm.
Silvie
Noch am selben Abend, nachdem ich Anna glatzköpfig aufgefunden hatte, erhielt ich einen Anruf von Matthias, in dem er mich fürchterlich beschimpfte. Ich hätte Annas Haare abrasiert. Wie ich so etwas hatte tun können? Ob ich meine Schwester noch unterstützen müsse in ihrem Wahn?
»Kein Wahn«, erwiderte ich seelenruhig, »es ist die pure Angst.«
Dass ich Schadensbegrenzung betrieben hatte, konnte ich nicht mal anbringen, so cholerisch schrie er mich an: »Vor dir muss man ja auch Angst haben!«
Was im Ziegler’schen Haushalt vor sich ging, konnte ich mir kaum ausmalen. Schließlich beruhigte er sich etwas. Anna habe ihn am Morgen informiert, sie müsse ins Krankenhaus. Wie ich mir vorstelle, wie das gehen solle? Ich sagte: »Das hat sie sich nicht ausgesucht, es muss eben sein. Ich helfe gerne aus, wo ich kann, lass ich mich eben krankschreiben und komme zu euch!«
»Wage
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