Hirngespenster (German Edition)
etwas Unanständiges an sich hätte.
»Wissen Sie auch, wann sie wieder zurückkommt?«, erwiderte ich ihren Blick. »Sie scheinen ja bestens informiert zu sein.«
»Wissen Sie«, begann sie in gekränktem Tonfall, »fast drei Monate hat sie kein Wort mit mir gewechselt, ich bin somit über gar nichts informiert. Aber man hat ja Augen im Kopf. Und heute holt weder ihr Mann noch sie die Kinder vom Kindergarten ab, und man fragt wieder mich, ob ich sie mitnehmen könnte. Wissen Sie, ich tue immer so, als hätte ich das verbaselt. Die hetzen ihr sonst noch irgendwann das Jugendamt auf den Hals. Als ich mit allen Mannen nach Hause komme, da sitzt Luna summend auf der Außentreppe – kein Mensch da, der ihr aufgemacht hätte.« Prüfend betrachtete sie mich. »Wenn Sie mich fragen, das Kind hat schon einen Knacks.«
Das war mir neu. Luna schien mir persönlich die Normalste in der Ziegler-Familie zu sein. Ich hob eine Augenbraue und überging diese Aussage. »Wo könnte meine Schwester denn sein?«, erkundigte ich mich stattdessen.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Sie hat seit Wochen kaum das Haus verlassen, sieht aus wie der Tod, wenn Sie mich fragen. Wenn ich an die Kinder denke, wird mir angst und bange.«
Ich trommelte mit den Fingern auf meine Handtasche, unschlüssig, was ich als Nächstes tun sollte. Ich musste mich bald auf den Weg machen, denn Nils' Kinderkrippe schloss in einer Stunde. Schließlich fiel mir das Naheliegendste ein, ich versuchte es auf Annas Handy – aber sie ging nicht ran. Mir blieb nichts anderes übrig, als das Rezept in den Briefkasten zu werfen, ich musste los. Leider hatte ich nicht im Geringsten daran gedacht, ihr die Tabletten aus der Apotheke zu besorgen – was sollte sie mit dem Rezept anfangen, wenn sie zurückkam?
Doch ehe ich mir weiter darüber den Kopf zerbrechen konnte, erregte etwas anderes meine Aufmerksamkeit. Matthias' Wagen kam plötzlich die Auffahrt nach oben gebraust, auf dem Beifahrersitz Anna. Es musste Anna sein, ich erkannte sie an ihren Augen. Ansonsten erinnerte sie jedoch eher an Gollum aus »Herr der Ringe«. Sie sah noch schlimmer aus als damals auf ihrem Bett, als ich sie kahlköpfig vorgefunden hatte. Völlig zerbrochen wirkte sie. Sie trug eine rosafarbene Wollmütze, wahrscheinlich eine von Luna, die ihren Kopf gerade mal so bedeckte. Gleichzeitig warf ich einen Blick auf Matthias, der etwas brüllte – aber da der Wagen geschlossen war, konnte ich nichts verstehen. Ich sah nur die Lippenbewegungen und die Wut in seinen Augen. Er sprang aus dem Wagen und lief direkt auf mich zu.
»Hier ist sie doch!«, schrie er mich an und deutete mit dem Finger auf Anna. »Du kannst sie gleich mitnehmen und einliefern!« Dann blieb er keuchend vor mir und Christine Brückner stehen, die entgeistert flüsterte: »Was ist denn passiert?«
Er lachte böse und tippte sich heftig auf die Brust: »Ich sitze nichtsahnend mit Kunden bei Giovanni zum Mittagessen, stehe kurz vor Abschluss eines Riesendeals, und meine Frau kommt auf einmal ins Lokal getaumelt und stellt sich neben mich an den Tisch. Mir ist fast das Blut in den Adern gefroren! Guckt sie euch an, sie trägt Hausschuhe und eine Kindermütze!« Wir alle wendeten den Kopf in Richtung Anna, die noch immer zusammengesunken im Auto saß. Matthias fuhr fort: »Wie es aussieht, rennt sie schon den ganzen Tag in diesen Klamotten rum! Und was sagt sie zu allem Überfluss, was sagt sie zu mir, an diesem Tisch, bei meinen Kunden?« Er äffte: »Matthias, die nehmen uns das Haus weg! Du musst sofort zur Bank gehen und das Geld bezahlen, die nehmen uns das Haus weg! Wo sollen wir denn hin mit den Kindern, ohne Haus?« Nun fuhr er mit normaler Stimme fort: »Meine Kunden kriegten ihre Klappe gar nicht mehr zu vor Entsetzen! Und ich konnte gar nicht so schnell reagieren und sie da hinausbugsieren, sie plapperte und flennte immer weiter!« Nun schrie er wieder: »Das spricht sich doch rum, verdammt noch mal!!« Plötzlich hielt er inne und deutete auf Frau Brückner: »Ich beschwöre dich, Christine, halt über diese Vorfälle in der Nachbarschaft den Mund. Ich vergesse mich sonst!«
Frau Brückner stammelte ein »Ja, ja, ich würde nie im Leben …«, da eilte Matthias wieder zurück zum Wagen und zerrte an Anna. »Raus mit dir«, zischte er, als sei sie eine Atomkraftgegnerin und er Polizist im Dienst. Sie ließ sich ohne Gegenwehr abführen, den Blick stur auf den Boden gerichtet, bis ins Haus hinein, die Tür
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