Hirngespenster (German Edition)
klingelte. Meine Mutter öffnete und nahm das Tütchen entgegen.
»Anna hat schon danach gefragt«, sagte sie und lief wieder ins Haus, winkte mich hinter sich her. Ich blieb stehen und rief leise: »Ich geh dann wieder, Mama, ich darf sowieso nicht rein.« Meine Mutter blickte vom Wohnzimmer um die Ecke und winkte mich zu sich. »Komm schon rein! Matthias ist wieder weggefahren, er musste sich noch mit diesen Kunden treffen, die er heute Mittag Knall auf Fall im Restaurant sitzenlassen musste. Wir kümmern uns jetzt um Anna, und dann nehmen wir die beiden Kleinen mit. Sie will hier absolut nicht weg, bildet sich ein, die Bank würde ihr von heute auf morgen das Haus wegnehmen. Matthias hat anscheinend ein paar Raten nicht bezahlt, aber er sagt, der Brief von der Bank sei ein Missverständnis. Da muss jemand Mist gebaut haben, sagt er. Er steht kurz vor Abschluss eines größeren Geschäfts, und es war abgesprochen, dass er die Raten dann bezahlt. Vermutlich war es ein Computerfehler.«
Ich glaubte kein Wort. Und dass meine Eltern so doof waren, ihm diese Story abzunehmen, konnte ich auch kaum glauben. Doch ich sagte nichts dazu. Was hätte es auch genutzt? Zwar hätte es meine Eltern dazu bringen können, etwas Geld beizusteuern und Anna damit Erleichterung zu verschaffen, aber ich dachte nicht so weit. Ich wollte nicht diskutieren – ich wollte nach Hause. Vorher nahm ich meiner Mutter die Pillen wieder ab und ging selbst zu Anna ins Schlafzimmer.
Sie sah völlig zerbrechlich aus. Als ich reinkam, streckte sie die Hand nach den Tabletten aus, und ich setzte mich zu ihr ans Bett, drückte ihr eine Pille aus der Packung und sagte: »Du musst in Behandlung, Anna.«
Sie nickte und schluckte die Pille ohne einen Schluck Wasser. »Ich bin in Behandlung«, erwiderte sie. »Mein Arzt hatte heute geschlossen, die Tabletten gehören zum Behandlungsplan.«
»Ach so«, sagte ich und blinzelte. »Na dann!« Die Erleichterung sackte mit jedem folgenden Atemzug: Alles hatte eine Erklärung! Sie war in Therapie und hatte nur heute einen kleinen Aussetzer gehabt. Gott sei Dank.
Dass Anna aussah wie der blanke Tod, dass sie in Hausanzug und Pantoffeln mit Kindermütze durch die Gegend gerannt war, das alles war aus meinem Gehirn wie ausgelöscht. In ihrer nächsten Therapiestunde konnte sie doch über den Vorfall reden, und alles würde wieder ins Lot kommen. Anna war in Behandlung. Alles war gut. Klar, Matthias war ein Arschlosch, und dass er so ausgerastet war, sprach nicht für seinen Charakter, aber da Anna ihm fast einen Deal vermasselt hatte, weil ihr Arzt ihr keine Tabletten aufschreiben konnte, war doch wiederum verständlich. Und ganz bestimmt stimmte auch die Story mit dem falschen Schreiben der Bank. Ganz bestimmt.
Ich stieg in meinen Wagen und blendete alle negativen Gedanken aus. Verbannte das nervöse Kitzeln in meinem Magen, das mich vor dem heraufziehenden Unheil warnen wollte, und drehte die Musik laut. Ich wollte nicht mehr über Probleme nachdenken und mich sorgen. Das Leben war doch viel zu kurz. Anna hatte ihr Leben im Griff, garantiert. Und ich? Bis zur Entbindung hatte ich noch etwa zwei Wochen vor mir, und ich hielt es für den geeigneten Zeitpunkt, mit Jens die Zukunft zu besprechen. Ich würde ihn nicht anrufen heute. Ich würde Johannes ein Essen kochen und mit ihm auf das neue Baby anstoßen.
Nicht das Geringste von Sabinas und Johannes' Verhältnis ahnend, sagte ich am anderen Tag zu Jens: »Diese Sache zwischen uns wird ja bald vorbei sein.«
Wir lagen im Hotelbett. Er richtete sich auf und hob die Augenbrauen, als hätte ich einen Scherz gemacht. »Wieso?«, wollte er wissen.
»Jens«, seufzte ich, »ich werde keine Zeit mehr haben für irgendwelche Treffen mit dir. Ich werde zu Hause sitzen, stillen, Windeln wechseln und höchstwahrscheinlich bei jeder Kleinigkeit heulen. Abgesehen davon, dass ich keine Lust auf Sex haben werde. Und bis ich wieder Lust darauf habe, wird hoffentlich mein Körper wieder so weit hergestellt sein, dass mein Mann wieder etwas mit mir anfangen kann.«
»Aha.« Er fixierte mich und leckte sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Das tat er immer, wenn er verlegen oder unsicher war. »Du glaubst also, dass dein Mann wieder für die Sache zuständig sein wird, wenn es so weit ist und du wieder Lust auf Sex hast?«, erkundigte er sich.
Ich nickte. »Das wäre mein Wunsch, ja. Immerhin sind wir verheiratet, und ich bekomme das zweite Kind.«
»So, so«, nickte
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