Hirngespenster (German Edition)
wissen, was noch alles passierte? Und die Situation, ohne Tabletten zu Hause zu sitzen, wollte sie nicht freiwillig erleben. Die Kraft, sich einen neuen Arzt zu suchen, hatte sie nicht gehabt.
»Ich glaube, Sie stehen kurz vor einem Nervenzusammenbruch«, sagte Dr. Kreiling. »Und damit meine ich nicht etwas, was man aus Fernsehsendungen kennt, wo die Frauen hysterisch rumschreien. Das, was Sie beschreiben, deutet auf Burn-out hin. Sie brauchen eine Therapie und eine Kur.« Er musterte sie verstohlen, stieß sich offenbar an ihrem Hausanzug und an ihrer Kopfbedeckung. Sie hatte sich nicht aufraffen können, sich umzuziehen.
»Ich brauche nur die Tabletten, Herr Dr. Kreiling«, wehrte sie ab, »dann geht es mir wieder gut.«
»Sie nehmen zu viele davon, Frau Ziegler. Es wäre verantwortungslos, wenn ich Ihnen ein Rezept gäbe.«
»Sie können mich nicht zu einer Therapie zwingen!«, rief sie. »Und zu einer Kur auch nicht.« Hatten sich alle gegen sie verschworen?
Er verschränkte die Arme. »Aber ich muss Ihnen auch kein Rezept ausstellen.«
Trotzig erhob sie sich. »Dann besorge ich es mir woanders.«
Langsam und mit hochrotem Kopf stieg sie die Treppe von der Praxis hinunter. Verdammt noch mal, begriff eigentlich keiner, dass ihr die Tabletten halfen, dass sie ein Segen waren? Auch für die Kinder? Ratlos blieb sie auf dem Bürgersteig stehen. Sich einen neuen Arzt zu suchen, dafür blieb jetzt keine Zeit mehr, sie musste nach Hause. Doch sie wollte nicht. Sie wollte das Rezept, und zwar ohne weiteren Kraftakt, andernfalls würde sie zusammenklappen wie neulich im Supermarkt. Peinlich berührt sah sie sich um und hatte plötzlich die rettende Idee. Sie konnte Silvie fragen! Silvie bekam doch immer alles, was sie wollte, sie konnte ihr sicherlich ein Rezept besorgen. Erleichtert griff Anna zum Telefon – eins –, tippte die Zahlen ein – zwei – und drückte die Wahltaste – drei –.
»Silvie, ich brauche deine Hilfe«, keuchte sie, als Silvie sich meldete.
»Ach du meine Güte, was ist denn passiert?«
»Ich schaffe das hier alles nicht!«, rief sie. »Matthias lässt mich wieder alles allein machen; ihm ist es egal, ob alle mich mit Kahlkopf sehen oder nicht, dabei war es ihm am Anfang so wichtig. Und Clara und Emma, die machen mich wahnsinnig!«
»Was soll ich machen, Anna? Vorbeikommen?«
»Nein, du brauchst nicht zu kommen«, antwortete sie ruhiger, »ich brauche ein Rezept aus der Apotheke. Morex. Meinst du, du könntest mir das besorgen?«
»Gibt es da unterschiedliche Dosierungen?«, fragte Silvie nur.
Anna atmete auf. »Fünfzig Milligramm.« Besser eine höhere Dosierung – für alle Fälle.
»Ich besorge es dir«, sagte Silvie und legte auf.
Anna blickte erstaunt auf den Apparat und ging langsam zu ihrem Wagen weiter. Zum ersten Mal hatte Silvie keine Fragen gestellt, sondern einfach ihre Hilfe zugesagt. Ins Haus lassen würde sie sie dennoch nicht, das war zu riskant. Anna verspürte Erleichterung und Müdigkeit. Unendliche Müdigkeit. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und stellte fest, dass sie sich noch eine Viertelstunde zu Hause hinlegen konnte, bevor sie die Mädchen abholen musste. Zeit, in der sie ein wenig zur Ruhe kommen konnte – zumindest wollte sie es versuchen.
Zu Hause angekommen, parkte sie ihren Wagen in der Garage, leerte mit letzter Kraft den Briefkasten und betrat erschöpft das Haus. Noch im Flur öffnete sie die Post.
Umschlag in die Hand – eins –, öffnen – zwei –, Brief herausnehmen – drei –. Seit drei Wochen hatte sie dies nicht getan, weil sie nie vor die Tür gegangen war. Matthias hatte den Briefkasten geleert, wenn er die Mädchen in der Mittagspause vom Kindergarten abgeholt hatte.
Zitternd las sie den Text des Schreibens ihrer Bank.
… haben wir mit Bedauern festgestellt, dass Sie unseren Zahlungsaufforderungen wiederholt nicht nachgekommen sind … Setzen wir Sie ein letztes Mal in Verzug … zahlen Sie bis zum … Und dann die Zahl, um die es sich handelte: 6750 Euro.
Säumige Darlehensraten: dre i.
Matthias hatte seit drei Monaten keine Hypothekenraten bezahlt.
Und wieder hatte sie Blut an den Fingern, von ihrem Kopf.
Ich liege in meinem Bett, übe fleißig »A-a-a« und »O-o-o« und betrachte dabei verträumt die Billy-Regale an der Wand gegenüber. Plötzlich bleibt mein Blick an einem großen Buch hängen, das mir bekannt vorkommt – ich habe früher öfters darin geblättert. Erstaunt setze ich mich auf.
Meine
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