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Hirngespenster (German Edition)

Hirngespenster (German Edition)

Titel: Hirngespenster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ivonne Keller
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Zwischenlösung gewesen, so dachte ich noch, als ich zu Hause eintraf und die Wohnungstür aufschloss. Dass ich einen Kloß im Hals hatte und verstohlen an meinen Fingern roch, die noch nach Jens dufteten, war reine Sentimentalität.

    Doch im Gegensatz zu der Zeit, in der ich mich mit Jens getroffen hatte, war ich plötzlich zu Hause wieder unausstehlich. Ich motzte an allem herum. Johannes war im Haushalt zu nichts zu gebrauchen, und wenn es mich auch in den Monaten zuvor nicht im Geringsten gestört hatte, so platzte mir nun wieder bei jeder Kleinigkeit der Kragen. Es lag zu viel herum, er dachte zu wenig mit, die alte Leier. Ich schob alles darauf, dass mir das Körperliche fehlte. Dass mir eventuell Jens selbst fehlen könnte, das verbot sich von selbst.

    Ach, ich vermisse ihn unendlich. Ob er wohl manchmal an mich denkt? Dass er mich besuchen käme, ist noch viel unwahrscheinlicher als eine Stippvisite von Anna. Natürlich kümmern sich alle rührend um mich und versuchen, es mir in meiner Situation so erträglich wie möglich zu machen – aber es ist verdammt schwer. So viele Einschränkungen.
    Gestern zum Beispiel, da lehnte ich mich etwas zu weit aus einem offenen Fenster. Wollte sehen, was da unten auf der Straße los war, wo Nils und Ole mit Sabina auf »Oma und Opa« warteten. Nichts weiter dabei – man wird doch mal aus dem Fenster gucken dürfen! Aber nein, Sabina rastete da unten auf der Straße völlig aus und wedelte mit den Armen. Dann kam Johannes ins Zimmer gelaufen und veranstaltete ein riesiges Theater schmiss sich förmlich auf mich und schluchzte und streichelte mich, als hätte ich mir das Leben nehmen wollen. »Meine Dicke«, murmelte er immer wieder, und »mein Engel«. Sabina zerrte mich schließlich auch noch an ihre Brust, so dass ich kaum Luft bekam. Ich mag das ja nicht so gerne, aber in dem Moment war es schön. Ich spürte, dass ihnen etwas an mir liegt. Manchmal lasse ich mich sogar von Sabina liebkosen, schnurre fast wie ein Kätzchen, wenn sie mir über die Wangen streicht oder mir den Scheitel küsst, weil ich völlig vergesse, dass sie meine Feindin ist.

Anna
    Emma und Clara verweilten in Hammersbach, und allein die Gewissheit, dass sie sich nur um Luna kümmern musste, verhalf Anna zu mehr Stabilität. Matthias jedoch tat sein Übriges, sie zu verunsichern. Als sie eines Morgens in die Küche trat, um sich einen starken Kaffee zu brühen, betrachtete er sie angewidert und zerrte sie schließlich am Arm ins Bad. »Du stinkst!«, sagte er. »Nimm mal ein Bad, das ist ja nicht zum Aushalten!«
    »Aber Luna …«, begann sie, doch er winkte ab.
    » Ich kümmere mich um sie, das gelingt mir vermutlich besser als dir! Du bist eine Zumutung, Anna, wirklich, eine Zumutung. Du siehst aus wie eine Pennerin – und du stinkst wie eine! Du musst doch auch mal die Klamotten wechseln! Und wenn du nicht schleunigst was unternimmst, dann werde ich zusehen, dass sie dich wegsperren!«

    Welcher Mensch wäre nach einer solchen Ankündigung in der Lage gewesen, in aller Ruhe ein Entspannungsbad zu nehmen? Anna zumindest nicht. Sie setzte sich auf den Wannenrand und weinte, so wie sie zuletzt in der Zeit ihrer Leukämie geweint hatte. Lautlos. Lediglich ein Quietschen wie von einem rostigen Scharnier war zu hören, wenn der gepresste Atem die Lunge verließ. Ihre Schultern zuckten, das Kinn zitterte, und aus den Mundwinkeln lief der Speichel. Irgendwann erreicht jedes Weinen seine Wirkung. Es beruhigt. Als sie schließlich hörte, dass Matthias mit Luna aus dem Haus war, schlich sie sich wieder aus dem Bad und wankte zurück in die Küche, um sich ihren verdienten Kaffee zu brühen. Dabei zählte sie mechanisch, um die Stimmen in ihrem Kopf zu unterdrücken, aber es gelang ihr mehr schlecht als recht. Sie brauchte wieder Pillennachschub, für den Notfall. Aber sich aufzuraffen, einen neuen Arzt aufzusuchen, der ihr ein weiteres Rezept ausschrieb – allein der Gedanke war zu viel des Guten. Sicher hatte sie noch ein paar von den Pillen übrig, die Silvie ihr besorgt hatte – übers Wochenende kam sie bestimmt damit aus; an mehr war nicht zu denken.
    Noch immer vom Weinen erschöpft, setzte sie sich mit ihrer Tasse ans Fenster im Wohnzimmer und blieb dort so lange, bis Luna aus der Schule kam. Vier Stunden saß sie dort, unbeweglich wie eine Mumie. Betrachtete die Beete, die dringend ein wenig Pflege nötig hatten, die Wiese, auf der in wenigen Wochen die ersten Herbstzeitlosen blühen

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