Hirngespenster (German Edition)
würden, im Frühjahr die Schneeglöckchen und Krokusse. Lauschte den Stimmen in ihrem Kopf, die ihr zuredeten, heute geduldig mit Luna zu sein. Luna hatte es so sehr verdient, dass man gut mit ihr umging; sie war ein so liebes, fürsorgliches Mädchen, half ihr, wo sie nur konnte, sorgte sich um sie wie kein anderer Mensch auf der Welt. Und wieder kamen ihr die Tränen bei dem Gedanken daran, dass das Kind dumm war. Alle ihre Kinder waren dumm. Dumm wie sie selbst.
Als Luna schließlich aus der Schule kam, hatte Anna nichts zu essen vorbereitet. Sie schlug ein paar Eier in die Pfanne, nahm Luna auf den Schoß ihres Hausanzugs und fütterte sie. Luna wollte nicht gefüttert werden, sie sagte: »Ich bin doch schon groß, Mama«, aber Anna bestand darauf; sie wollte ihr was Gutes tun. Nach dem Essen ging es an die Hausaufgaben, und Anna freute sich sogar ein bisschen, dass sie einmal die Zeit hatte, ihr zu helfen, ohne dass sie sich um die anderen beiden kümmern und das Haus aufräumen musste. Dabei wäre es gut, das Haus aufzuräumen, denn ihre Mutter hatte die ganzen Stapel durcheinandergebracht, die sie mühevoll gebildet hatte. »Hier sieht es schlimmer aus als bei den Hottentotten«, hatte ihre Mutter gestöhnt und aufgeräumt, während sie im Bett gelegen hatte, sich der wohligen Wirkung der ersehnten Tabletten hingebend. Sie erinnerte sich noch an das Geräusch des Staubsaugers und wie ihr Vater sich die Kinderzimmer vorgenommen hatte, immer wieder »Ach, herrje!« ausrufend. Vermutlich hatte er die halb leeren Joghurtbecher gefunden, die sie in einer Ecke von Lunas Schrank aufbewahrte. In der Küche war dafür kein Platz, und bei Gelegenheit hatte sie daraus einen leckeren Nachtisch zubereiten wollen. Vielleicht sollte sie doch etwas aufräumen, nur kurz. Sie schob Luna von ihrem Schoß und begab sich an die Arbeit. Mal sehen, wo er die Joghurtbecher hingetan hatte. Nur ein bisschen aufräumen, dann nahm sie sich Zeit für Luna. Ganz bestimmt. Sie spielte viel zu selten mit den Kindern. Im Grunde war sie immer froh, wenn keine was wollte, wenn sie kein »Mama« hörte – was selten genug vorkam, fast nie. Immerzu »Mama, Mama, Mama!«.
Luna beobachtete Anna aus den Augenwinkeln und packte ihre Schulsachen aus. Sie hatte nur Deutsch auf, und sie wollte heute alles tun, damit ihre Mama sich nicht über sie ärgerte. Vermutlich würde sie sich trotzdem ärgern, aber sie wollte alles dafür tun, dass Mama heute nicht mit ihr schimpfte. Wenn sie ein bisschen summte, ging es ohnehin besser, dann hatte sie nicht so viel Angst vor der Schimpfe. Wie neulich, als sie im Zimmer gemalt hatte und die Mama gekommen war. Erst hatte sie sich gefreut, dass sie so schön malte, aber dann hatte sie leider entdeckt, dass sie gekleckst hatte. Kleckse mochte Mama nicht, sie musste dann immer den Lappen holen. Obwohl sie in letzter Zeit gar nicht mehr so oft wischte. Oft saß sie einfach nur da. Oder sie schrie ihr so laut ins Ohr, dass es weh tat. Plötzlich bemerkte sie Anna hinter sich und zuckte zusammen.
»Was schreibst du denn da wieder, Luna?«, fragte sie mit dieser Stimme, die Luna Angst machte.
»Ich muss diesen Text hier abschreiben, Mama, siehst du.« Luna deutete auf einen Text zum kleinen b.
Anna atmete tief durch. »Das ist aber kein b, das du da geschrieben hast, Luna, das ist ein d. Genau andersherum!«
Doch Luna sah nicht, was ihre Mutter meinte. Sie erkannte den Unterschied nicht, für sie sahen die beiden Buchstaben haargenau gleich aus. Es gab einige von denen, die sich aufs Auge glichen. Und manche Buchstaben versteckten sich in den Wörtern, sie entdeckte sie einfach nicht. Und dann wurde die Mama immer ganz besonders böse.
»Ich schreibe es dir nochmal auf, Luna, guck mal genau her: b und d. b und d. Siehst du den Unterschied?«, fragte Anna, um Fassung ringend.
Luna nickte, obwohl sie nicht den geringsten Unterschied erkennen konnte. Nervös radierte sie den bereits geschriebenen Text aus ihrem Heft und begann von neuem.
Anna betrachtete wortlos das kindliche Gekritzel, zupfte sich wieder an den Haarstoppeln und entriss ihrer Tochter schließlich das Heft.
»B! Luna, sag mal, kriegst du das nicht in deinen dummen Kopf? B!«, schrie sie und knallte das Heft wieder auf die Tischplatte.
Aber Luna bekam es nicht in ihre Birne.
Der Rest des Tages verschwamm wie im Nebel. Anna dachte an Matthias' Worte vom Morgen, dass er sie wegsperren wollte, und an Silvies und Christine Brückners Blicke, als
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