Hirngespenster (German Edition)
bezweifelte sie mittlerweile. Dieser Brief änderte alles.
Am nächsten Morgen fuhr sie zu einem Friseur nach Friedrichsdorf, ließ sich die Haare auf eine einheitliche Länge anpassen und erkundigte sich beiläufig nach einem Arzt vor Ort, den sie wegen einer akuten Sache aufsuchen könne. Man verwies sie an einen Dr. Pfleger, einen fähigen Arzt, der wie alle guten Ärzte überlastet war – Gott sei Dank. Anna erklärte ihm unter Tränen, sie habe ihre Mutter verloren und befände sich nun im Erbstreit – da bräuchte sie etwas Starkes für die Nerven. Keine Stunde später kam sie mit einem Rezept über Ramosan aus der Praxis. Ein Mittel, das sie noch nie genommen hatte, und sie ärgerte sich, dass sie nicht den Mut gefunden hatte, ihm »ihr« Mittel zu nennen. Sie würde es ausprobieren und schauen, was es taugte. Und wenn nicht: Ärzte gab es wie Sand am Meer. Privatpatienten waren gern gesehen, und wenn man die Rezepte nicht bei der Kasse einreichte, bekam kein Mensch sie je zu Gesicht.
Am Abend, als Matthias nach Hause kam, warf er einen Blick auf ihren Schädel und fragte: »Warst du beim Friseur, oder hast du das selbst gemacht?«
»Ich war beim Friseur«, erwiderte sie leise.
Und da riss er ihr an den Haaren, so kurz sie auch waren. Riss daran und lachte. »Für so was gibst du Geld aus? Du bist wirklich verrückt.«
Meinen Plan mit dem Fotoalbum aus dem Billy-Regal konnte ich bis jetzt noch nicht in die Tat umsetzen. Ein herber Rückschlag folgt dem nächsten. Tagsüber stellen sie alles Mögliche mit mir an, um mich abzulenken, und ich vergesse es immer wieder – zumal ich mein Zimmer nur zum Schlafen betrete. Ständig zwingen sie mich, Gymnastik zu machen, vor der ich schon einen Horror habe, weil sie so anstrengend ist. Selbst Sabina, die früher rücksichtsvoll war, wenn ich jammerte, meint jetzt, ich sei faul.
Und dann, um die Zerstreuung perfekt zu machen, sind wir oft mit Nils und Ole auf dem Spielplatz. Ich genieße es so sehr, wenn ich den beiden ganz nah bin. Ole backt Sandkuchen für mich, und ich soll ihn probieren. Sabina lacht, wenn ich es tatsächlich tue, und Ole sagt: »Bäh, das macht man doch nicht!«
Wenn ich dann abends im Bett liege und das Album im Regal erblicke, könnte ich ausflippen! Ich will erreichen, dass sie mir einmal zuhören. Aber für sie steht ja ohnehin fest, dass ich nicht gut denken kann – also wozu mir Gehör schenken?
Trotzdem nehme ich es mir jeden Abend aufs Neue vor, ihnen am nächsten Morgen zu verklickern, dass ich ihnen etwas zu sagen habe. Doch dann, wenn sie mich wecken, denke ich an alles andere, nur nicht an das Album! Es ist zum Verzweifeln.
Silvie
Eines Abends, kurz vor Oles Geburt, rief Christine Brückner bei mir an. Ich lag bereits im Bett, hatte unsägliche Ischiasschmerzen und glaubte schon, sie seien die Läuterung, die der liebe Gott mir für meinen Betrug an Johannes angedacht hatte. Ich tat also Buße, und Johannes versorgte Nils, der nichts davon ahnte, dass er bald vom Thron gestoßen würde. Das Telefon lag neben mir am Bett, und zuerst wusste ich mit diesem Namen gar nichts anzufangen.
»Christine Brückner hier«, meldete sie sich. Einen kurzen Schockmoment lang dachte ich, es handele sich um Jens' Frau, aber er hieß ja Reimer.
»Ja?«
»Ich bin die Nachbarin Ihrer Schwester. Sie haben mir Ihre Karte dagelassen, erinnern Sie sich?«
Mit schmerzverzerrtem Gesicht richtete ich mich auf. Was war denn nun schon wieder los? »Ja?«, fragte ich wieder und machte bestimmt keinen besonders schlauen Eindruck. »Ist was mit Anna?«, fiel mir noch ein.
»Hier drüben ist die Hölle los«, sagte sie. »Anna schreit mit Luna, Matthias schreit mit Anna. Und mir scheint, er schlägt sie. Anna, meine ich. Es tut furchtbare Schläge.«
Dabei waren Clara und Emma noch immer bei meinen Eltern untergebracht, es sollte doch eigentlich ruhiger zugehen als sonst. »Ich glaube kaum, dass mein Schwager Anna schlägt, da müssen Sie sich irren«, sagte ich. Ich konnte mir viel bei ihm vorstellen – aber schlagen? Unmöglich. Und dass Anna Luna anschrie, das hatte ich noch nie erlebt, auch wenn diese Frau Brückner es ständig behauptete. Ich hörte ein Schnauben am anderen Ende der Leitung. »Frau Jakobi, ich wollte es Ihnen nur sagen. Ob Sie es glauben oder nicht, überlasse ich Ihnen. Aber wenn das dort drüben so weitergeht, dann rufe ich die Polizei. Oder das Jugendamt. Oder beide.«
Ich dankte ihr für ihren Anruf, versprach, mich um
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