Hirngespenster (German Edition)
sie neben Matthias im Wagen vorgefahren war: Mitleid und Abscheu. Und noch immer trug sie den gleichen Hausanzug. Sie konnte sich nichts Aufwendigeres vorstellen, als sich frische Kleider zu nehmen, ins Bad zu gehen und den Hausanzug auszuziehen. An die Nadelstiche des Wassers wollte sie gar nicht erst denken. Lieber wollte sie sich um Luna kümmern, die geweint hatte. Und geduldig sein, diesmal. Ganz bestimmt.
Aber vorher wollte sie noch eine Weile hier sitzen bleiben am Wohnzimmerfenster und den Spatzen an der Tränke zusehen. Sie hüpften dabei. Eins – zwei – drei –.
Als Matthias sie viele Stunden später so vorfand, lag Luna bereits im Bett. Sie war routiniert darin, sich allein fertig zu machen und ins Bett zu gehen. Normalerweise hatte Anna ohnehin keine Zeit, sich am Abend um sie zu kümmern, weil Emma und Clara ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen. Noch immer hatte Anna nicht geduscht; das langsam nachwachsende Haar stand ihr in kurzen Büscheln vom Kopf ab. So saß sie am Fenster, roch nach Schweiß und ranzigem Essen. Er sprach sie an, zuerst leise, doch die Wut rumorte in seinem Bauch. Selbst als er sie lauter ansprach, reagierte sie nicht.
Matthias war nicht geübt im Schlagen. Er traf ihre Wange zunächst halbherzig, ihr Kopf berührte nur leicht die Scheibe des Wohnzimmerfensters, doch es führte zumindest dazu, dass sie aufsprang und ihn entgeistert ansah. Verkommen sah sie aus und abgewrackt, sie wusste es selbst –, und um seiner unendlichen Wut Luft zu machen, schlug er ein zweites Mal zu, diesmal mit einem perfekten Klatschen, das fünf rote Fingerabdrücke hinterließ. Ein Schlag, der ihr Gehirn zum Schwingen brachte. Schreiend lief sie ins Bad und verschanzte sich in der Duschwanne, hielt sich nicht damit auf, sich auszuziehen, sondern ließ das heiße Wasser über ihren Körper strömen, fast eine Stunde lang, bis sie die klatschnassen Kleider mühselig vom Körper schälte und ein wenig Seife unter den Achseln auftrug. Sie zählte und zählte ohne Unterlass, bis er heftig klopfte, wahrscheinlich weil er glaubte, sie läge tot in der Duschwanne. Was genau genommen gar keine schlechte Idee war.
Damit sie zu Kräften kommen konnte, blieben Emma und Clara weiter in Hammersbach. Anna vermisste sie nicht, war nur erleichtert, dass Ruhe eingekehrt war, Ruhe, die sie dringend nötig hatte. Sie litten unter Durchfall, den ihre Großeltern mit Cola und Salzstangen zu behandeln versuchten. Darüber hinaus bereitete ihnen die starke Lebhaftigkeit der beiden Sorgen – und nicht nur das: Es machte sie mürbe. Doch Anna konnte unmöglich die Wahrheit einräumen. Sie empfahl ihnen Globuli – Zappelin –, das für lebhafte Kinder angeblich gut geeignet war. Nutzen brachte es keinen, aber was konnte sie dafür? So gut es ging kümmerte sie sich um den Haushalt und um Luna.
Christine Brückners Sorge um die Kleine wuchs und wuchs, das Gebrüll, das nachmittags zu ihr herüberschallte, wurde für sie zur Zerreißprobe.
Mit Matthias sprach Anna kein Wort mehr – er ignorierte sie gleichermaßen –, bis sie wenige Tage später, zum ersten Mal seit Eintreffen des Mahnbriefs von der Bank, wieder einmal an den Briefkasten ging. Dabei stieß sie auf das Schreiben einer Rechtsanwaltskanzlei. Sie verstand gar nicht, um was es darin ging: von Betrug war die Rede, und von einem Gerichtstermin.
Schwach auf den Beinen vor Angst taumelte sie Matthias entgegen, als er nach Hause kam. »Was hast du noch alles gemacht?«, schrie sie – ungeachtet dessen, dass die Haustür noch weit offen stand.
Matthias knallte die Tür mit einem Schlag zu. »Ich verbiete dir, meine Post aufzumachen!«, schrie er so laut, dass der Speichel flog. Danach schubste er sie in die Küche und mit der Hüfte gegen den Tisch, so dass sie erschrocken aufschrie. »Gib endlich Ruhe!«, brüllte er und drohte: »Nie wieder gehst du an die Post, hörst du!?«
Dabei lagen im Arbeitszimmer etliche ungeöffnete Briefe, die er in den letzten Wochen direkt aus dem Briefkasten dort hingelegt hatte. Wann wollte er sie denn öffnen, grübelte Anna und beäugte unsicher die Tür zum Arbeitszimmer, in das er sich nach dem Vorfall in der Küche zurückgezogen hatte. Die Aale in ihrem Magen begannen erneut, sich den Weg in ihre Speiseröhre zu bahnen. Wieder und wieder kontrollierte sie die Anzahl ihrer verbleibenden Tabletten, zählte die Päckchen in ihrem Nachttisch, leere und volle. Dass sie noch bis nach dem Wochenende reichen sollten,
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