Hirschgulasch
weiß und schön. Seit vielen
Jahren war ihm zum ersten Mal wieder bewusst, welches Gefühl Schönheit in
seiner Brust auslösen konnte. Mandy lackierte sich gerade die Fingernägel,
während er sich auf die weißen Gipfel der Berge träumte, nur weil sie so schön
waren. Er kann ihn riechen, den Nagellack.
Er hört, wie das Seil reißt, als er mit dem Messer darüberstreicht.
Erst das eine, dann das zweite. Er spürt Wladimirs Bewegung, als er sich,
nachdem das eine Seil gerissen ist, an das andere hängt, in der Hoffnung, es
könnte halten. Doch es hielt nicht. Und er hört den langen Schrei aus dem
Trichterrand.
Von Reichenberg fliegt und fliegt. Trotz der zehn Meter, die er
stürzt, hat er vielleicht eine Chance zu überleben. Vielleicht ist der Boden,
auf den er fällt, steil genug, um einen Teil der Wucht aufzunehmen, ohne ihn
sofort zu stoppen und Organe und Knochen bersten zu lassen. So haben Menschen
schon Flugzeugabstürze überlebt. Er versucht sich zu drehen, doch er beherrscht
seinen Körper nicht wie ein Athlet. Die Zeit in der Luft ist zu kurz, um eine
bessere Position für den Aufprall zu erreichen. Er schafft es zwar, in Schräglage
ein Bein als Erstes auf den felsigen Boden zu setzen, doch es knickt weg, als
wäre es aus Pappmaschee. Er hört das Knallen einer gerissenen Sehne. Wie Gummi
verformt sich sein Becken, um nie wieder in seine ursprüngliche Form
zurückzukehren.
Der Aufprall. Er bleibt reglos liegen. Von Reichenberg spürt keine
Schmerzen. Als passiere das alles einem anderen, nicht ihm. Mark und Fett tritt
aus den großen Knochen in die Blutbahn und wird in wenigen Minuten, falls er
sie überlebt, der Grund für eine tödliche Thrombose sein. Er denkt noch, welch
eine Ironie. Ein Sturz wird es also sein, an dem er sterben wird. Ein gerechtes
Schicksal, das muss man zugeben.
Leni läuft ein Stück den Weg entlang zu einer Stelle, an der sie leicht
nach unten klettern kann. Die befreite Geisel, der Held der Stunde, sitzt immer
noch unbewegt da und reckt den Kopf über den Abgrund, um von Reichenberg beim
Sterben zuzusehen.
Im Hintergrund hört sie Stimmen, Rufe. Endlich kommen auch die
Kollegen. Erleichtert stellt sie fest, dass von Reichenberg noch lebt, als sie
ihn erreicht.
»Können Sie mich hören?«
Von Reichenberg schlägt die Augen auf.
Leni weiß, sie sollte ihm Mut zusprechen, aber sie bringt es nicht
übers Herz. Sie sieht, er wird gleich das Bewusstsein verlieren, und die Chance,
dass er noch einmal aus seiner Ohnmacht erwacht, ist gleich null.
»Sie haben nichts mehr zu verlieren«, sagt sie eindringlich. »Wen
haben Sie verfolgt? Und warum? Warum haben Sie Wladimir López getötet?«
Er lacht, nein, nicht er, nur sein Mund. Dann flüstert er, sodass
Leni ihr Ohr fast auf seine Lippen legen muss.
»Sie … werden nicht dahinterkommen …«
Das Lächeln verschwindet nicht aus seinem Gesicht. Es wird noch
tiefer, als das Leben aus seinen Augen weicht.
Berchtesgaden, 1. Juni 2010
Von Reichenbergs Leiche ist abtransportiert. Seine ehemalige Geisel
zur Untersuchung ins Krankenhaus gebracht. Die Menge der Schaulustigen vor dem
Bergwerk hat sich fast aufgelöst. Nur ein paar Eiserne harren immer noch aus
und versuchen von den Einsatzkräften und den Sanka-Fahrern ein paar
Detailinformationen zu erhaschen.
»Ich weiß, dass Sie jetzt enttäuscht sind«, sagt Leni zu Weidinger.
»Mir würd’s ganz genauso gehen.«
»Ich ärger mich einfach. Können Sie das verstehen? Wahrscheinlich
passiert es in dreihundert Jahren genau ein Mal, dass die Polizei einen
Verbrecher durch ein Salzbergwerk jagt.«
»Und dann sind Sie nicht dabei.«
»Dabei war ich ja schon fast da, aber mir wurde ein Fahrzeug
vorgesetzt, mit dem ich nicht umgehen konnte. Sie hätten mir genauso gut ein
Pferd hinstellen können oder ein Kamel. Damit wäre ich ungefähr so schnell
gewesen wie mit diesem verteufelten Segway, das so bockig war wie ein Esel.«
»Sagen Sie nix gegen Esel. Ich hab zwei zu Hause im Stall stehen.
Ludwig und Romy. Zwei ganz sanfte, brave Wesen.«
»Sie hören nicht auf, mich zu überraschen, Kollegin. Kühe, Esel. Und
das Segway-Fahren war offenbar auch kein Problem für Sie. Gibt’s eigentlich
auch etwas, was Sie nicht können?«
»Ja, jetzt warten S’ mal, lassen S’ mich mal überlegen … Ja,
den von Reichenberg vor diesem wild gewordenen Kerl aus dem Sinkwerk zu
schützen, der ihn unbedingt stellen wollte, das ist mir nicht gelungen.«
»Sie machen sich doch
Weitere Kostenlose Bücher