Hirschgulasch
der Maschine zu rutschen. Plötzlich
ein schrecklicher Lärm, Luba hat die Hupe durchgedrückt. Marjanas Gesicht
presst sich gegen Lubas Rückenprotektor, einen Augenblick denkt sie, ihr
Jochbein müsse zersplittern. Der Hinterreifen quietscht trotz ABS und rattert auf dem Asphalt. Die Ninja kommt fast
quer zur Fahrbahn zum Stehen.
Luba nimmt den Helm ab. »Das war knapp. Die Viecher sind nicht mehr
an den Verkehr gewöhnt, sie wissen überhaupt nicht, was passiert, wenn sie ein
Fahrzeug sehen.«
»Was war das denn?«, krächzt Marjana heiser.
»Ein Wolfspaar, sicher sind die anderen aus dem Rudel auch ganz in
der Nähe.«
Marjana sieht sie entsetzt an.
»Keine Panik, die Wölfe tun uns Menschen nichts, denen geht’s hier
gut. Komm, wir fahren weiter.«
Sie kommen an dem Schrottplatz mit den verstrahlten Armeelastwagen,
Raupen und Hubschraubern vorbei. Mit einem davon ist Wiktor geflogen. Luba
wollte nicht an ihn denken, aber nun ist er doch da, in der Erinnerung, als
wäre es gestern gewesen. Sie versucht, ihn abzuschütteln, aber vielleicht wird
man die Dinge und Menschen, denen man in der Zone begegnet, nicht mehr so
schnell los. Hier gelten eigene Gesetze.
Noch einmal gibt Luba Gas und spürt, wie sich die fremden Arme fester
um ihre Taille legen. Schon sieht sie den Rand des Dorfes, die zerfallenen
Zäune, das Haus mit dem Baum, der durchs Dach wächst. Alles hat sie mehrfach
fotografiert und den Verfall von Jahr zu Jahr dokumentiert. Bald werden die
letzten Zurückgebliebenen gestorben sein, so wie bald die letzten Täter und
Opfer des Großen Krieges gestorben sein werden.
Mila kniet in ihrem Gemüsebeet, als sie ankommen. Sie wendet sich
nach der lauten Maschine um, lacht, als sie Luba erkennt, und versucht
aufzustehen. Bis sie endlich mit ihren zwei Stöcken in Bewegung kommt, sind
Luba und Marjana längst bei ihr im Vorgarten.
»Mila, schau, wen ich heute mitgebracht habe. Das ist meine Freundin
Marjana.«
»Traust du dich nicht mehr alleine her? Das letzte Mal hattest du diesen
dünnen Mann aufgelesen, heute hast du eine Frau dabei. Denkst wohl, ich könnte
irgendwo liegen und tot sein, wenn du kommst. Aber selbst dann tu ich dir
nichts, brauchst keine Angst zu haben. Dann kann ich vielleicht besser auf dich
aufpassen, als ich es heute kann.« Mila kichert, dann muss sie husten.
»Ich brauch niemanden, der auf mich aufpasst«, sagt Luba.
»Ja, natürlich, ich weiß. Du hast mir nie von Marjana erzählt.«
»Konnte ich auch nicht, ich habe sie erst kennengelernt, nachdem ich
das letzte Mal bei dir war.«
»Setz dich«, sagt Mila zu Marjana, als sie in der Küche stehen.
Der Lack an den Fensterrahmen blättert schuppig ab. Die mit verblichenen
Rosen verzierte Plastiktischdecke wird nicht mehr sauber. Nichts wird je mehr
sauber werden in dieser Kate.
Eine getigerte Katze streicht um Lubas Beine.
Mila hat sich auf einem der Stühle niedergelassen und erteilt von
dort aus Befehle. »Luba, mach uns Tee, du weißt doch, wo der Tee ist, ja,
hinter der linken Tür, oben im Küchenschrank.«
Luba öffnet die Tür, nimmt ein mit Kräutern gefülltes Glas in die
Hand.
»Nein, nein, das ist doch Brennnesseltee, nein, den wollt ihr doch
bestimmt nicht trinken, ihr seid doch noch jung.«
Luba erzählt, dass sie vielleicht mit Marjana nach Deutschland fahren
wird, wegen Alexejs Karte. Sie wollen herausfinden, wo Alexej im Krieg arbeiten
musste und was es mit der Höhle und dem Berg auf sich hat, den er darauf
eingezeichnet hat.
»Los, steh auf, Luba, schau mal da, wo der Tee war, greif hinter die
Gläser, spürst du was? Ja, ja, das beißt nicht, ist nur ein Büchlein, los,
bring es her, los, los, gib es mir.«
Mila dreht es zwei-, dreimal in der Hand. »Dass ich daran nicht gedacht
habe, alt werde ich. In dem Buch hat Alexej alles aufgeschrieben, was er in
Deutschland erlebt hat. Seitdem er zurück ist, hat er darin geschrieben. Er hat
es immer wieder ergänzt und in neue Bücher übertragen. Das da ist das letzte
Buch, da steht alles drin, ganz genau. Kannst es ruhig mitnehmen, Luba. Ich
kenne jedes Wort darin, ich brauch es nicht mehr. Es ist da, wo auch Alexej ist.«
Mila klopft sich auf die Brust, dorthin, wo das Herz ist. »Er hat’s wirklich
nicht leicht gehabt. Erst die Deutschen, dann die Russen, dann auch noch das
Unglück mit dem Kraftwerk. War das vielleicht ein schönes Leben, das wir gehabt
haben?«
»Ihr werdet auch schöne Tage gehabt haben«, sagt Marjana. »Wenn die
Liebe so
Weitere Kostenlose Bücher