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Hirschgulasch

Hirschgulasch

Titel: Hirschgulasch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graf-Riemann/Neuburger
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nicht sehr viele Gäste. Von gegenüber, auf der
anderen Straßenseite, glotzt ein dunkler Flachbau aus den siebziger Jahren zu
ihm hinüber, das nicht mehr ganz taufrisch wirkende Berchtesgadener
Kongresshaus. Kinoplakate leuchten aus einem Schaukasten, an der Tür kleben
bunte Veranstaltungshinweise.
    Als Weidinger seiner Neugier nachgibt und hinübergeht, liest er dort:
»Großer Trachtenball, Veranstalter: Gebirgstrachtenerhaltungsverein
D’Kehlstoaner. Es spielt die Musikkapelle Ramsau. Einlass nur in Tracht«. –
»Claudia Schlenger & Hanns Meilhamer, alias Herbert & Schnipsi, mit dem
Programm ›Weil wir uns net geniern‹«. – »Rock meets Classic« und außerdem
»Die CubaBoarischen«. Zwischen Kongresshaus und der Einfahrt zur Tiefgarage wirft
Weidinger einen Blick über die Mauer des Alten Friedhofs, auf dem rote
Grabkerzen in ihren Plastikhüllen flackern.
    Er überquert die Maximilianstraße wieder und geht weiter in die
Fußgängerzone. Auf dem Marktplatz sind Schnüre mit weißen und blauen Fähnchen
zwischen den historischen Häusern gespannt. Weiß-blau wie der Himmel über
Bayern. Weidinger weiß zwar nicht, was da gerade gefeiert wird, aber es muss
etwas mit Bayern zu tun haben.
    Am Marktbrunnen trifft er auf einen älteren Herrn, der einen jungen
Schäferhund ausführt. »Was wird denn hier gefeiert?«, fragt Weidinger.
    »Ein Jubiläum. Zweihundert Jahr san wir Berchtesgadener jetzt bei
Bayern«, antwortet er, und Weidinger weiß nicht genau, ob ihm oder eher seinem
Schäferhund.
    »Und davor?«, will Weidinger wissen.
    »Davor waren wir ein eigenes kleines Land, eine Fürstpropstei. Und
ganz eigenständig. Dazwischen warn wir österreichisch und sogar kurz
französisch, unterm Napoleon. Aber seit 1810 gehörn mia zu Bayern, und da bleib
ma jetzt auch, gell, Rexi?«
    Rexi beobachtet den Marktplatz und stellt offenbar keine besonderen
Vorkommnisse fest. Nicht einmal einen räudigen Kater entdeckt er, den er
verbellen könnte. Ein paar vereinzelte Urlauber spazieren durch die Straße,
bleiben vor erleuchteten Schaufenstern stehen, bewundern die Lüftlmalereien an
den stattlichen Markthäusern. Die Läden sind geschlossen, Lokale scheint es
zumindest hier in der Straße nicht zu geben.
    »Viel ist bei euch aber nicht los am Abend«, sagt Weidinger. »Wo
krieg ich denn jetzt noch was zum Essen?«
    »Vorn, im Edelweiß«, antwortet der Mann.
    »Ja, und sonst? Irgendeine urige Wirtschaft wird’s doch hier auch
noch geben?«
    »Freilich, aber um die Uhrzeit? Beim Goldenen Bären könnt noch offen
sein. Wo kommen S’ denn her?«
    »Aus München.«
    »Ja, des hab ich mir glei denkt, dass Sie a Münchner san.«
    »So? Woran haben S’ denn das erkannt?«
    »Am Schnauzbart natürlich. Wie der König Ludwig. Dem schaun Sie
ähnlich.«
    »Wirklich? Haben Sie den noch persönlich gekannt?«
    Der Mann stutzt.
    »War bloß ein Spaß! Auf Wiederschaun.«
    Weidinger dreht noch eine Runde über den Markt, kommt an der
Marktbäckerei, der Marktapotheke, einer Tchibofiliale, einem Drogeriemarkt und
mindestens fünf Sportgeschäften vorbei, bis er im Goldenen Bären tatsächlich
noch etwas zu essen bekommt.
    »Da haben Sie aber Glück gehabt«, sagt die tschechische Bedienung.
»In zehn Minuten machen wir die Küche zu.«
    Es ist zehn vor zehn.

Berchtesgaden, 22. Mai 2010
    Durch das Okular des Fernrohrs sieht Wladimir die schwarzen Krallen,
die sich wie Metallschellen um eine kleine Unebenheit im glatten Fels klammern.
Der Wind zerzaust den feinen schwarzen Flaum, der fast wie eine Behaarung
aussieht; einzelne Federn stehen wie eine verunglückte Frisur vom Körper der
Vögel ab. Die Füße und Zehen sind wie mit orangeroten Schildplatten gegen das
raue Bergklima gepanzert.
    Wladimir verringert die Brennweite und erkennt einen ganzen Schwarm
der schwarzen Vögel, die an der senkrechten Felswand hängen. Sie wetzen ihre
Schnäbel am Fels oder picken darin nach Mineralien, Flechten und Moosen.
    Wie auf ein geheimes Kommando lassen alle plötzlich los, fallen in
den Wind, stürzen einige Meter ab, breiten die Flügel aus und formieren sich
innerhalb von Sekunden zu einem Geschwader, das in Formation einer Jägerstaffel
in Richtung Aussichtsplattform fliegt. Sie nutzen den starken Wind, um mühelos,
ohne einen Flügelschlag, hundert Meter aufzusteigen, formen sich zu einer
Kugel, um dann fast senkrecht abzustürzen, auf einen etwa zehnjährigen Jungen
zu, der sich eben auf eine Bank gesetzt hat. Wenige Meter vor

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