Hirschkuss
Jäger ist vor allem die Hege vom Wild, und das hat auch ein Recht auf ein Leben. Man muss nicht alles zusammenschießen, bloß weil man mit dem Holz einen Haufen Geld machen will. Den Viechern gehört der Wald genauso wie uns. Außerdem wär es eh viel gescheiter, man würde dafür sorgen, dass sie mehr Ruhe haben, anstatt die Viecher reihenweise zu erschießen. Schauen’S, Frau Loop, wir erleben gerade einen Wandel: Früher war zum Beispiel das Reh ein tagaktives Tier. Es ist einfach am helllichten Tag auf die Bergwiese gegangen und hat gefressen. In aller Ruhe. Aber heute tappen ja zigtausend Wanderer überall in der Landschaft herum, dazu noch Mountainbiker, Wingsuitspringer, Drachenflieger und was weiß ich … Folglich traut sich das Wild bloß noch in der Dämmerung aus’m Wald raus, oder gar nicht mehr. Und wenn es gar nicht rauskommt, dann sucht es sich im Wald sein Fressen. Und das sind dann halt zum Beispiel die Triebe von jungen Bäumen.« Singer nahm den letzten Schluck von seinem Bier. »Und ganz schlimm wird’s jetzt neuerdings mit den ganzen Fackelwanderungen und Nachtskitouren, dem ganzen Eventscheiß halt, der in den Bergen Einzug hält. Da tappen die Leut’ dann auch noch im Dunkeln durch die Natur, und das Wild hat überhaupts keine Ruh’ mehr. Und da kommt dann dieser Hirsch von dieser verreckten Firma und setzt mir das Messer auf die Brust. Und da muss ich sagen, alles, was recht ist, es muss eine Grenze geben. Es muss auch einmal eine Ruhe sein im Wald!«
»Von wem sprechen Sie jetzt?«, fragte Anne scheinheilig, als gerade die Bedienung an den Tisch trat.
»Da ist dein Bier, Blasius. Und du magst den Ketchup?«, wandte das Reserl sich Lisa zu. Annes Tochter nickte. »Ja mei, das schmeckt, gell! Ketchup zur Weißwurst! Das ist schon was ganz was Feines!«
Anne war sich nicht sicher, ob die Bedienung das nun ironisch meinte, deshalb sagte sie entschuldigend: »Es tut mir leid, aber sie ist so heikel …«
»Ja, ja, das wächst sich alles raus«, meinte die Bedienung großzügig. »Wissen’S, mir haben hier schon viel schlimmere Sachen erlebt: Ein Chines wollt einmal Nutella zum Radi, ein Spanier hat eine Cola und einen Rotwein bestellt, und dann hat der beides zusammengeschüttet, in einen Maßkrug, ja pfui Teufel, sag ich da! Und der Russ’ bestellt bei uns regelmäßig Kässpatzen mit Debreziner und Mayo. Wenn’s da nicht der Sau graust! Das ist halt auch die Globalisierung – aber mir Bayern sind schon immer tolerant. Die berühmte Liberalitas Bavariae, nicht wahr …«
Als die Bedienung wieder weg war und Johann Lisa etwas Ketchup aus dem Tütchen neben die Weißwurst gedrückt hatte, fragte Anne den Jäger Singer: »Sie hatten eben gesagt, Ihnen setze jemand das Messer auf die Brust. Was meinten Sie damit?«
»Ach so, ja gut, da habe ich jetzt natürlich übertrieben. Also, genauer gesagt, ist das eigentlich ein Schmarrn, den wo ich da geredet hab. Natürlich setzt mir niemand ein Messer auf die Brust. Ich bin ja frei, mir kann ja niemand was.«
»Aber Sie sagten doch eben, dass Ihnen jemand das Messer auf die Brust setzt!«, insistierte Anne.
»Ach so, ja, das war einfach bloß so …« Er zögerte und sah verloren zur Eingangstür, durch die ein Mann mit Hut und Lederhose trat. »… dahergeredet. Sonst nix.« Anne studierte kritisch seine Gesichtszüge. Als Singer den Blick registrierte, fügte er beschwichtigend hinzu: »Also ganz ehrlich: In meinem Wald gibt es zum Glück keine solchen Probleme. Aber in anderen Wäldern … Da gibt es so was natürlich schon. Ich höre das ja von Kollegen.« Jetzt sah ihn auch Johann misstrauisch an. »So, und? Schmeckt die Wurst mit dem Ketchup?«, versuchte Singer von sich abzulenken, doch er bemerkte schnell, dass das nicht funktionierte. »Wir haben zurzeit ja auch gar keinen Förster. Das macht der, dem der Wald neuerdings gehört, jetzt alles selber. Der hält sich schon für ziemlich oberschlau. Denkt, dass er von allem eine Ahnung hat.« Nervös klopfte Singer mit den Fingern auf das Halbliterglas. »Hat er aber nicht. Null Ahnung hat der Mattusek, also, von Waldwirtschaft und so. Von Geschäften und Aktien vielleicht schon, aber nicht vom Wald!« Der Jäger starrte auf seinen Teller. »Das ist mir aber wurscht. Ich mach meine Arbeit und fertig. Ich hab schon immer dafür gesorgt, dass der Wildbestand vernünftig ist. Und mein Vater und mein Großvater auch schon. Das Wild hat Rechte. Es muss leben.« Wieder schnippte er
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