Hirschkuss
tödlich! Da hört der Spaß auf!«
»Aber beim Gammelfleischskandal ging es doch auch um verdorbenes Fleisch.«
Der Koch schüttelte den Kopf, hörte auf zu rühren und sah Anne ernst an: »Wissen’S was? Haben Sie schon einmal ein Bild von so einem Milzbrandfleisch gesehen? Ganz ehrlich: Das sieht ein Blinder mit Krückstock, dass mit dem Fleisch was nicht stimmt. Das merkt schon der Jäger, dass so ein Viech todkrank und brandgefährlich ist. Wissen’S, Frau …«
»Loop«, half ihm Anne.
Er nickte. »Wissen’S, man braucht die Viecher dafür meistens gar nicht zu schlachten. Man sieht es fast immer schon am Brust- oder Bauchfell, dass da was nicht stimmt. Diese Milzbrandviecher haben meistens Blutungen. Wenn Sie mich fragen: Wer so was trotzdem anfasst und weitergibt, muss ein Wahnsinniger sein. Milzbrand ist turboansteckend und wird über die Haut übertragen. Das weiß jeder Depp. Wer so etwas macht, muss komplett von allen Geistern verlassen sein – oder …«
»Oder was?«
»Oder nix!«
»Oder – was?« Anne blieb hartnäckig.
»Oder er ist ein richtig feiger Dreckshund, der wo etwas richtig Böses im Schilde führt.«
Der Küchenchef ergriff wieder den Löffel und rührte noch einmal im Topf. Dann sagte er: »Ich hab Ihnen jetzt meine Meinung gesagt, und die steht: Ich glaube nicht, dass irgendein Gastronom so ein versautes Fleisch auf den Tisch stellt. Da sind’S auf dem Holzweg. Hundertprozentig.« Er wandte sich für einen Moment von Anne ab und rief in den hinteren Teil der Küche: »Hannes, Kartoffelsalat herrichten!« Dann blickte er wieder Anne an. »Und jetzt muss ich mich entschuldigen. Bei dem Wetter geht’s heut nämlich rund. Da kann ich jetzt nicht den halben Vormittag verratschen. So gern ich’s tät. Sie sind ja doch eine …« Er suchte einen Moment lang nach dem richtigen Wort und ergänzte dann: »Erscheinung.« Hierauf reichte er Anne die Hand. »Also, nix für ungut.« Nachdem Anne eingeschlagen hatte – seine Hand war schwitzig –, drehte der Koch sich um und ließ sie in der Küche stehen. Nachdenklich radelte die Polizistin zum Strandbad.
Lisa fand die Zeit im Strandbad super. Und weil Johann dabei war, fand auch Anne es gar nicht so schlimm. Die drei verbrachten den halben Tag dort, zu Mittag gab es Pommes frites. Als Lisa allein beim Schwimmen war, beugte sich Anne über den neben ihr liegenden Johann und küsste ihn lange und intensiv.
Doch am Abend, als beide auf der Terrasse an ihrem zweiten Campari Orange nippten, klingelte Johanns Handy. Er stand auf und ging nach drinnen. Anne hörte, wie er sagte: »Nein, Silke, nein. Ich kann jetzt nicht kommen. Wirklich nicht.« Anne verspürte einen Stich. Atemlos lauschte sie, doch Johann schwieg jetzt. Als er weitersprach, glaubte Anne wahrzunehmen, dass sich seine Stimmlage verändert hatte. »Also gut. Ja, gut. Okay, bis gleich.«
Anne durchfuhr ein Schreck. Wieso bis gleich?
Eine Stunde später saß sie allein auf der Terrasse. Nachdem Johann das Telefonat beendet hatte, hatte er ihr erklärt, dass Silke seine Schwester sei. Diese Nachricht hatte Anne mit Erleichterung aufgenommen. Doch es gebe Probleme mit ihrem Vater. Der im Seniorenheim bei München untergebrachte Vierundachtzigjährige sei am Abend unbeaufsichtigt aufgestanden und gestürzt. Er liege jetzt im Krankenhaus, und es sei nicht klar, ob er operiert werden müsse.
»Es tut mir leid«, sagte Johann. Dann küsste er sie.
Sonntag
Am nächsten Morgen wählte Anne gleich um acht Uhr seine Nummer, aber Johann nahm den Anruf nicht entgegen. Erst um elf rief er zurück. Er habe das Telefon nicht gehört und habe in der Nacht kaum geschlafen. Sein Vater liege auf der Intensivstation. Der Alte habe nachts auch noch einen Schlaganfall erlitten.
»Soll ich zu dir kommen?«, fragte Anne leise.
Johann schien kurz nachzudenken. »Aber Anne …«, erwiderte er schließlich zögernd, »so … so gut kennen wir uns doch gar nicht.«
Anne schluckte. Es war nicht so, dass er dies nicht in einem lieben Tonfall gesagt hätte. Aber war das der Johann, den sie kannte? Nach dem Gespräch verkroch Anne sich in ihr Bett und weinte ins Kopfkissen. Eine üble Vorahnung sagte ihr, dass auch diese Beziehung sie nicht glücklich machen würde. Als sie hörte, wie Lisa in ihr Zimmer trat, wischte sie sich schnell die Tränen aus dem Gesicht und sagte: »Komm, Lisa, wir testen jetzt mal den Baumerlebnispfad am Schliersee aus!«
Die kleine Wanderung um den Nachbarsee
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