Hirschkuss
unserm Wald kommt das einmal garantiert nicht. Hundert Prozent.«
»Und was gibt Ihnen diese Gewissheit?«, schaltete sich Johann in das Gespräch ein, was Anne mit einem scharfen Seitenblick kommentierte. Was bildete er sich ein? Klar, er war ihr Liebhaber, aber wessen Job war das hier?
»Das wüsste ich«, antwortete Singer. »Und außerdem kommt Milzbrand – genauso wie Rauschbrand – bei Wild in unseren Breiten eigentlich bloß noch im Lehrbuch vor. Und dass ein Mensch damit in Kontakt kommt, ist auch total unwahrscheinlich. Das ist eine nach Tierseuchengesetz anzeigenpflichtige Krankheit. Wissen’S, so Viecher, die wo Milzbrand haben, dürfen ja gar nicht enthäutet werden, geschweige denn in irgendwelche Hände gelangen.« Er fuhr sich mit der Linken durch den dichten Dreitagebart. »Was waren denn das für Leute, die da an Milzbrand gestorben sind?«
»Zwei Urlauber, Studenten«, antwortete Anne.
»Ich habe Hunger«, quengelte Lisa.
»Die Weißwürste kommen gleich«, beruhigte Johann das Mädchen.
»Waren die auf der Jagd?«, wollte Singer jetzt wissen. »Hatten die eine Erlaubnis?«
»Das wissen wir nicht. In der Ferienwohnung der Toten haben wir jedenfalls keinerlei Waffen oder Sonstiges gefunden, das auf Jagdaktivitäten hinweisen würde.«
Der Jäger schüttelte den Kopf. »Das ist schon komisch. Und die waren hier bei uns im Tal unterwegs und sollen sich dabei angesteckt haben?«
Anne fand sein Erstaunen glaubwürdig. Blasius Singer schien wirklich nichts von Milzbrandfällen im Tal zu wissen.
»Und gab es sonst irgendwelche Vorkommnisse in Ihrem Revier? Hat sich an Ihrer Arbeit irgendetwas verändert? Gibt es Probleme?« Anne war gespannt, ob er von sich aus auf den Streit mit dem Holzinvestor zu sprechen kommen würde.
Die Bedienung servierte die Weißwürste. Anne bat Johann, die Würste für Lisa zu enthäuten, und wandte sich wieder Singer zu, der auf ihre Frage relativ unwirsch entgegnete: »Was sollte ich denn für Probleme haben? Ich hab keine Probleme!«
»Können Sie denn Ihre Arbeit so ausüben, wie Sie sich das vorstellen?« Würde er nun auf Mattusek kommen?
»Ja. Schon. Warum fragen Sie das?«
»Gar nichts, was Sie stört?«
Anne sah ihn kritisch an, halbierte dann eine Weißwurst und zog einer der beiden Hälften die Haut ab.
»Weißwürste zutzelt man fei in Bayern«, belehrte sie der Jäger.
»Ich weiß«, meinte Anne, »aber ich bin aus dem Rheinland, und deshalb mache ich das lieber so.« Singer zuckte mit den Schultern. »Gar nichts, was Sie stört?«, wiederholte Anne ihre Frage. Ihre Stimme hatte einen provozierenden Unterton.
»Nein.« Singer nahm einen großen Schluck von seinem Bier. »Warum fragen Sie so –«, er dachte nach, »ja … fast hätt ich jetzt hinterfotzig gesagt?«
»Na ja, zwischen Jägern, Förstern und …«, Anne machte eine Kunstpause, »… Waldbesitzern gibt es doch eigentlich immer Interessenkonflikte.« Sie zögerte und sah ihn freundlich an. »… Interessenkonflikte, die allen Beteiligten das Leben schwer machen.«
»Mama, ich will Ketchup.«
»Kannst du bitte bei der Bedienung Ketchup bestellen?«, wandte Anne sich an Johann, ohne ihn dabei anzusehen.
Das gleichzeitige »Nein« der beiden Männer am Tisch kam so überraschend, dass plötzlich alle lachten. Außer Lisa. Das Mädchen schaute den Jäger böse an.
»Eine Weißwurst kann man nicht mit Ketchup essen«, erklärte dieser. »Das wäre gerade so, wie wenn du mit einem Sommerkleid Ski fahren tätst.«
»Na, das wäre doch genau dein Fall, Lisa, oder?« Der Blick von Annes Tochter verfinsterte sich weiter.
Unter den Erwachsenen hatte das kurze Intermezzo jedoch für eine Auflockerung der Stimmung gesorgt, und so sagte Singer unvermittelt: »Also, um noch einmal auf Ihre Frage zurückzukommen: Das läuft natürlich nicht immer reibungslos, was Sie da vorher meinten. Jäger und Waldbesitzer, und so. Da prallen natürlich Welten aufeinander.«
Anne nickte. »Reserl, noch ein Helles, bitte«, rief der Jäger der Bedienung zu. »Und bitte Ketchup für meine Tochter«, rief Anne hinterher. Johann schüttelte den Kopf, sagte aber nichts.
»Wie muss man sich das vorstellen«, fragte Anne, »wenn da die Welten aufeinanderprallen?«
»Na ja, der Waldbesitzer will halt viel fällen und viel nachwachsen lassen. Und je weniger Wild es gibt, das die jungen Bäume zusammenbeißt, umso mehr werden groß.«
»Und? Was haben Sie dagegen, viel Wild zu erlegen?«
»Der Job vom
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