Hirschkuss
erwiderte der Mann ein »Grüß Gott«.
»Das hier ist meine Tochter Lisa und mein … ähm …«, Anne suchte kurz Johanns Blick, »… Kollege Johann Bibertal.«
»Kollege Bibertal? Das ist gut!«, meinte Singer mit Ironie in der Stimme. »Schwaben gibt’s hier viele.«
»Wie meinen Sie das?«, erkundigte sich Johann etwas irritiert.
»Ja, weil Ihre Ahnen vermutlich aus dem Bibertal kommen werden, wenn Sie so heißen, oder? Und das ist doch in Schwaben, da bei Günzburg, die Gegend?«
Johann schüttelte den Kopf: »Meine Familie kommt aus München.«
»Ist ja wurscht«, meinte Singer. »Setzt’s euch trotzdem.« Als er Annes prüfenden Blick auf den Hund wahrnahm, fügte er an: »Das ist bloß der Seehofer, der tut nix.«
»Darf ich ihn streicheln?«, fragte Lisa begeistert.
»Nur zu«, antwortete der Jäger und wandte sich dann erneut Johann zu: »So, der Herr Bibertal, dann bringen wir die Sache jetzt einmal hinter uns, oder? Was wollen’S denn von mir wissen?«
Johann räusperte sich. »Ich will gar nichts von Ihnen wissen. Aber ich denke, die … also … Frau Loop hat ein paar Fragen an Sie.«
»Ach so, Emanzipation, verstehe. Sie ist die Domina und die Chefin, haha!«
»Ich mag ein Spezi«, forderte Lisa unter dem Tisch. Der Hund schleckte ihr gerade die Hand ab. Anne bereute es, den Termin mit dem Jäger nicht allein wahrgenommen zu haben.
»Spezi gibt es morgens um neun Uhr nicht«, sagte Anne und suchte hilflos Johanns Blick.
»Es ist aber schon Viertel nach neun«, maulte Lisa.
»Johann, wollt ihr nicht schon mal rausgehen und Steine in den See werfen oder so?«
»Steine in den See werfen? Ich habe total Durst, Mama!«
Anne bestellte Limonade – das war der Kompromiss, der in der Kürze der Zeit erzielt werden konnte – und Weißwürste, und sah dann den Jäger ernst an.
»Ich brauche Ihre Sach- und Fachkenntnis, Herr Singer.«
»Moment«, meinte der Jäger und wischte sich den Schaum vom Mund, den der eben genommene Schluck aus dem Bierglas auf seinen Lippen hinterlassen hatte. »Erst einmal interessiert mich, ob ich hier als Verdächtiger vernommen werde oder als Zeuge.«
Anne schaute ihn erstaunt an. »Weswegen sollten wir Sie denn verdächtigen? Ich sehe das eher als … informelles Gespräch.«
»Ach so. Ja, dann … ich wollte das bloß klarstellen.«
»Nein, nein«, insistierte Anne. »Sagen Sie nur: Weshalb sollten wir Sie denn verdächtigen? Das würde mich jetzt schon interessieren. Ich meine«, sie blickte kurz zu Johann, »Sie müssen ja irgendetwas im Sinne haben, wenn Sie das sagen.«
Der Jäger zog seinen Hirschfänger aus der Hosentasche und popelte damit Dreck unter dem Daumennagel der linken Hand hervor, dann sagte er leiser: »No ja, ich dachte halt, dass es um die verschwundene Frau geht. Weil man sagt, die ist im Wald verschwunden. Und da hab ich mir gedacht, dass Sie da an mich denken, weil ich ja quasi dauernd im Wald bin. Also, von Berufs wegen.«
»Das stimmt natürlich«, gab Anne zu. »Wissen Sie denn etwas über das Verschwinden der Frau?«
»Nein, eben nicht! Null und nix.« Mit diesen Worten hob Singer abrupt den Kopf und fixierte Annes Blick. Die Polizistin überkam ein seltsames Gefühl, aber sie konnte sich nicht erklären, weshalb.
Die Limonade für Lisa, eine Johannisbeerschorle für Anne und eine Apfelschorle für Johann wurden gebracht. Anne bestellte einen Strohhalm nach, einen gelben – auf keinen Fall rosafarben, das hatte Lisa verlangt. »Aus dem Rosa-Alter bin ich nämlich draußen.«
»Haben Sie irgendwelche verdächtigen Beobachtungen in Ihrem Wald gemacht?«, wandte sie sich dann wieder an den Jäger.
»Nein.«
»Gut«, seufzte Anne müde. Die Nacht mit Johann hing ihr in den Gliedern. »Dann würde ich dieses Thema gerne ad acta legen und mit Ihnen über etwas völlig anderes sprechen. Gab es hier im Tal schon einmal einen Fall von Milzbrand? Also, haben Sie schon mal ein Tier erlegt, das mit dem Anthraxerreger infiziert war?«
Jetzt wirkte der Jäger überrascht. Aber erneut lautete seine Antwort »Nein«. Er hörte auf, seine Fingernägel zu reinigen, und fragte: »Wie kommen’S jetzt da drauf?«
»Uns sind diese Woche im Kreiskrankenhaus zwei Menschen gestorben. Die hatten sich beide mit verseuchtem Wildfleisch infiziert.«
»Ach!«
Anne beobachtete den Jäger ganz genau. Aber sein Gesichtsausdruck ließ nur einen Schluss zu: Er war wirklich erstaunt. Nachdem er sich gefasst hatte, sagte er: »Also, aus
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