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Hirschkuss

Hirschkuss

Titel: Hirschkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Steinleitner
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eine derart plumpe Tat wirklich zutrauen? Natürlich verstand sich gerade ein Chirurg auf das Abtrennen und Entwurzeln harten Materials, aber hier war jemand mit einer Flex am Werk gewesen, denn die Pfeiler, auf welchen die Stege ruhten, waren aus schwerem Eisen. Mit Abstand betrachtet war es unvorstellbar, dass ein derart feiner Herr zu solch grober Säge griff. Andererseits – das wussten die Ermittler aufgrund ihrer jahrelangen Erfahrung – durfte man als Provinzpolizist keinesfalls den Fehler begehen, abwegige Tatvarianten auszuschließen. Erlebte man nicht gerade im schönen Bayernland immer wieder die unglaublichsten kriminellen Überraschungen? Hätte es jemals einer für möglich gehalten, dass ein Scheich aus dem Emirat Ada Bhai ein Casting für seinen Harem im Tal veranstalten würde, das in einem Mord endete? Hätte man gedacht, dass Aktivisten der Occupy-Bewegung die kleine Bankfiliale der nördlichen Seegemeinde besetzen würden? Dass ein Badewannenmord den See erschüttern würde? Und doch waren alle drei Verbrechen in der vergangenen Dekade passiert. Natürlich waren sich die Ermittler bewusst, dass sie in dem Fall der angesägten Stege mit Samthandschuhen vorgehen mussten: Mit allen Mitteln musste verhindert werden, dass die Polizei in den Ruch kam, mit einer der Parteien in einem Boot zu sitzen.
    »Ich tät gar kein Seegrundstück wollen«, meinte Kastner irgendwann. »Nicht einmal geschenkt.«
    »Warum nicht?«, fragte Anne, die ja selbst auf einem derartigen Grundstück lebte, aber von den Stegen noch nicht betroffen war.
    »Weil man dann dauernd diese Neider am Hals hat. Das ist doch anstrengend! Das ist, wie wenn man einen Ferrari fährt.« Er kratzte sich am Kopf. »Ich kenne einen Millionär, der fährt den ganzen Tag mit einem Golf herum, obwohl er einen Ferrari in der Garage stehen hat. Aber der traut sich nicht ans Tageslicht damit, weil er Angst hat, dass die Leut’ sonst reden.«
    »Also, ich habe keine Neider am Hals«, meinte Anne. »Ich finde es einfach nur schön, wenn ich abends noch in den See springen kann, ohne dass mir dabei irgendjemand zusieht.«
    »Aber dir gehört das Grundstück ja auch nicht.«
    »Aber so einen Spaziersteg wollte ich ehrlich gesagt auch nicht vor die Nase gesetzt bekommen.« Anne strich das vor ihr liegende Protokollblatt glatt. »Aber wahrscheinlich müssen Lisa und ich sowieso bald ausziehen. Keine Ahnung, wie lange Bernhards Eltern uns noch da wohnen lassen …«
    Wenig später packte sie geräuschvoll ihre Unterlagen zusammen, flötete Kastner ein »Tschühüüss« zu und war verschwunden. Der schaute irritiert auf die Uhr und murmelte, mehr zu sich selbst: »Viertel vor zwölf! Seit wann machen mir um Viertel vor zwölf Mittag?«
    »Warum bist du noch da?«, fragte Anne beinahe flüsternd, als Johann sie im Wohnzimmer umarmte. Sie schnappte nach Luft.
    »Weil ich nicht weg wollte.« Er küsste sie.
    Anne durchrieselte ein Schauer. »Aber du musst doch arbeiten!«
    »Ich habe angerufen, dass ich heute Homeoffice mache. Mit dem Laptop kann ich auch von hier auf die Kanzleidatenbank zugreifen.«
    »Und du hast keine Termine heute?«
    »Abgesagt.«
    »Abgesagt?« Anne atmete schwer, als Johanns Hände ihre Uniformbluse aufknöpften.
    »Was hast du vor?«, flüsterte sie.
    »Nichts.«
    »Frau Loop, wir warten jetzt schon seit sage und schreibe acht Minuten auf Sie.« Nonnenmacher trommelte mit seinen dicken Wurstfingern ungeduldig auf der Platte des Tischs im Besprechungsraum der Polizeiinspektion herum.
    »Es tut mir leid«, meinte Anne.
    »Sie haben gesagt, Sie bleiben eine Stunde weg, und jetzt sind es eine Stunde und acht Minuten. Der Kollege Sepp sagt, dass Sie schon um Viertel vor zwölf raus sind.«
    Anne nahm die Dienstmütze ab, und weder Nonnenmacher noch Kastner, noch den aus der Kreisstadt angereisten Kollegen Schönwetter und Fritzenkötter entging, dass die Wangen der jungen Polizistin gerötet und ihre Haare etwas aus der Form waren.
    »War es ein … gutes Mittagessen?«, fragte Nonnenmacher.
    »Ja«, meinte Anne spitz und setzte sich auf den freien Stuhl. »Es war … voller … Höhepunkte.« Das Blau ihrer Augen strahlte wie ein Gebirgssee unter wolkenlosem Himmel.
    »Was gab’s denn?«, wollte Kastner wissen.
    »Penne … äh … mit … äh … Soße und Salat«, stammelte sie und schob hastig »und zum Nachtisch Hirschküsse« hinterher. Natürlich hatte sie zum Essen keine Zeit gehabt. Aber sie verspürte auch keinen

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