Hirschkuss
woraufhin der Hund augenblicklich von Anne abließ und verstummte. Dann wandte sich Singer der Polizeihauptmeisterin zu: »Und was ist jetzt derart wichtig, dass wir uns hier bei diesem Sauwetter zu einem Stelldichein im Urwald treffen müssen?«
»Haben Sie gehört, was mit Mattusek passiert ist?«
Der Jäger nickte. »Man sagt im Tal, er sei an Milzbrand verreckt. Dann gibt’s also doch noch eine Gerechtigkeit auf Erden.« Die Härte und Emotionslosigkeit, mit der Singer diesen Satz sprach, überraschte Anne. Es klang wie eine Feststellung. »Wer so mit der Natur umspringt, verdient nichts anderes, als dass die Natur ihn sich holt.«
»Es könnte nicht sein, dass Sie bei Herrn Mattuseks Tod ein wenig nachgeholfen haben?«, erkundigte Anne sich.
»Ach so, verstehe, daher weht der Wind.« Der Jäger sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Jetzt geht mir auf, warum Sie bei dem Dreckswetter unbedingt hierauf wollten. Sie verdächtigen mich!« Singer warf einen empörten Blick in den Wald. Seine Hand griff zu dem schwarzen Gewehr, das er über der Schulter hängen hatte. »Aber warum? Wenn der Depp nicht einmal versautes Fleisch von gutem Fleisch unterscheiden kann, dann kann man ihm doch auch nicht helfen.«
»Ich meine schon, dass Herr Mattusek um die Gefährlichkeit des Fleisches wusste.«
»Aha, und warum hat er es dann gegessen?« Der Jäger stand jetzt stocksteif im Wald. Aus dem Baum über ihm klopfte ein dicker Tropfen nach dem anderen auf seinen Hut, es hörte sich an wie ein Hammer. Doch Singer schien das Geräusch nicht wahrzunehmen.
Anne fixierte den Jäger. »Sie wissen doch genau, dass Herr Mattusek nicht daran gestorben ist, dass er das Fleisch gegessen hat!«
Nun sprach aus dem Blick des Jägers Erstaunen. Nach einem Zögern sagte er: »Er hat es nicht gegessen? Wie ist das denn dann passiert?«
Die Polizistin studierte hoch konzentriert Singers Gesicht: War da ein kurzes unsicheres Zucken bei der Narbe unterhalb des linken Auges? Verbarg er etwas? Oder wusste er wirklich nichts?
»Das ist Täterwissen. Das werde ich Ihnen nicht auf die Nase binden.« Annes Stimme wurde ruhig und leise. »Herr Singer, wir können es drehen und wenden, wie wir wollen: Sie haben ein Problem. Ich habe Sie dabei beobachtet, wie Sie sich einen offenen Streit mit dem nun Verstorbenen geliefert haben. Und es war kein harmloser Streit. Es war ein Streit, bei dem Sie mit gezücktem Jagdmesser auf Herrn Mattusek losgegangen sind – wir sprechen hier von genau dem Herrn Mattusek, der jetzt tot ist! Herr Singer, Sie zählen für mich zu den hochgradig Verdächtigen!«
»Von was reden Sie? Was für ein Streit?«
»Herr Singer, Sie können mir nichts vormachen. Sie wissen genau, wovon ich spreche. Ich habe Sie beobachtet. Am Donnerstag vor zwei Wochen standen Sie mit dem gezückten Jagdmesser im Wald. Sie haben mit Mattusek gestritten, geschrien und ihn geschubst. Und am Ende haben Sie das Messer blankgezogen und gegen Mattusek gerichtet.«
Der Jäger schnaubte. Auch der braun-grau gescheckte Hund an seiner Seite hechelte plötzlich nervös.
»Dann waren das Sie, die da gerufen hat!«, rief der Mann halblaut aus. Er schluckte. »Jetzt versteh ich, warum Sie das alles so sehen. Aber … aber es ist nicht immer alles so, wie es scheint. Diese Geschichte mit dem Mattusek – das war … das war … eine … normale Auseinandersetzung … das war …«
»Eine normale Auseinandersetzung? Mit einem Jagdmesser? Wir sind hier doch nicht auf dem Balkan!«, fuhr ihm Anne dazwischen. Sie machte einen Schritt zurück, weil der Kopf des Hundes plötzlich nach vorn geschnellt war.
»Ruhig! Seehofer, mach Platz!«, befahl der Jäger barsch.
»Aber das ist nicht alles …«, sagte Anne, sie spürte Aufregung in sich aufsteigen. »Und im Übrigen ist das auch nicht der wichtigste Grund für mich, Sie zum Kreis der Verdächtigen zu zählen.« Sie zögerte, atmete zwei-, dreimal ein und aus, tastete mit der Hand nach der Pistole. Der Regen hämmerte auf Singers Hut. Der Jäger im langen Lodenmantel starrte sie böse an. »Der wichtigste Grund ist für mich, dass Sie eines der stärksten Motive haben, Mattusek zu beseitigen.«
Diese Aussage schien den Jäger gewaltig zu provozieren. Wie von Sinnen schrie er plötzlich: »Wieso denn ich? Was soll das denn bitte für ein Motiv sein, das ich haben soll? Sie sind ja verrückt! Völlig narrisch!«
Anne blieb keine Zeit, auf diese Beleidigung zu reagieren. Sie warf einen
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