Hirschkuss
mehr!«
»Eben – das, was da hochgegangen ist, könnte aus dem Zweiten Weltkrieg stammen, schreibt der Gutachter.« Anne las vor: »›Folgende Hypothese erscheint am wahrscheinlichsten: Es ist zu vermuten, dass ein fahnenflüchtiger Soldat in den letzten Kriegstagen des Zweiten Weltkriegs sich seiner Waffen, Patronen und Handgranaten entledigen wollte. Weil er nicht wusste, wohin damit, legte er sie in die Astgabel des gesprengten Baumes. Im Laufe der Jahre wurden diese explosiven Stoffe vom Baumstamm umwachsen, sodass sie von außen auch für einen erfahrenen Forstarbeiter nicht mehr erkennbar waren. Durch das Besägen wurde einer der Sprengkörper vermutlich entzündet und brachte das gesamte Depot zur Explosion.‹«
»Das kann fei schon sein«, meinte Soder, der bislang geschwiegen hatte, mit zittriger Stimme. »So was stand auch einmal in der Forstzeitschrift. Dass so was immer wieder einmal vorkommt. So haben die Soldaten am Ende vom Krieg oft ihr Waffenarsenal entsorgt.«
»Und die Leidtragenden sind mir«, stimmte Hannawald ihm Mitleid heischend zu.
»Respektive der Nachtweih Steff.« Soder rieb sich die Augen.
»Gut«, meinte Anne. »Aber da haben wir trotzdem noch diese andere Leiche. Und Frau Nikopolidou ist ja ganz offensichtlich nicht durch Munition aus dem Zweiten Weltkrieg ums Leben gekommen.« Mit strengem Blick musterte sie die drei Männer. Dann sagte sie mit beinahe bittendem Ton: »Jetzt hören Sie doch: Sie schmerzt, dass Ihr Kollege tot ist. In München gibt es eine Familie, die schmerzt es, dass ihre Tochter nicht mehr lebt. Dass diese Leute nicht wissen, wie ihre Tochter zu Tode gekommen ist, macht das Ganze noch viel schlimmer! So sagen Sie uns doch bitte endlich, was Sie wissen!«
»Wenn wir jetzt irgendwas zugeben, davon wird sie auch nicht mehr lebendig«, entgegnete Soder trotzig und wühlte nervös in seinem Vollbart.
»Aber der Steff wird auch nicht wieder lebendig, wenn mir ihn jetzt …«, begann Zernet einen Satz, brach dann aber ab.
»Was?«, bellte Nonnenmacher den Holzfäller an. »Wenn ihr was …?«
»Bitte nicht so laut, Herr Nonnenmacher«, ermahnte Anne ihren Chef, bevor sie sich wieder den Holzfällern zuwandte.»Hat Herr Nachtweih etwas mit dem Tod von Frau Nikopolidou zu tun?« Sie blieb betont sachlich.
Die drei Männer studierten die Kante des Tischs, als stünde dort eine geheime Botschaft. Keiner sprach ein Wort. Im Flur vor dem Besprechungszimmer verrückte jemand Möbel. Von der Straße vor dem Polizeigebäude her erklang das Geklapper von Pferdehufen. Die Sekunden dehnten sich in die Länge. Ein Rumoren war zu hören.
»Du solltest, glaub ich, einen Reis essen, Kurt«, durchbrach Kastner die Stille. Er nahm Bezug auf die Reisdiät, die Nonnenmachers Frau Helga für seinen sensiblen Magen in einer Frauenzeitschrift entdeckt hatte.
»Das hilft auch«, sagte Hannawald und zog einen Flachmann aus der Innentasche seiner Trachtenjacke.
»Was ist da drin?« Nonnenmacher nahm das silbern glänzende Trinkgefäß an.
»Probieren!«, forderte ihn der Holzfäller auf.
»Da rührt sich was«, sagte Zernet. Er klang nicht glücklich. »Ich nehm dann auch ein Maulvoll.«
Nonnenmacher nippte erst vorsichtig, trank dann aber zwei, drei ganze Schlucke. »Das schmeckt fein. Was ist das?«
Er reichte die Flasche an Zernet weiter, der »Hirschkuss« sagte, dann einen Schluck nahm, um schließlich monoton seinen Spruch aufzusagen: »Auffi, obi, rum ums Eck.« Dann nahm er einen weiteren Schluck und gab die Flasche Soder, der ebenso trank wie schließlich auch Hannawald. Für einen Moment dachte Anne an den Boandlkramer aus Franz von Kobells Brandner Kaspar , der den Tod, der ihn mehrmals holen will, immer wieder mit Schnaps unter den Tisch trinkt. In diesem Fall aber wirkte der Kräuterlikör wie ein Wahrheitsserum und löste die Zungen der drei Holzfäller. Denn in der Folge gestanden Zernet, Soder und Hannawald, dass sie es waren, die den Tod von Hanna Nikopolidou verursacht hatten. Genauer gesagt: ihr Kollege Nachtweih.
»Aber wir konnten da wirklich nix dafür!«, stammelte Zernet nervös. »Wir haben alles regelgerecht abgesperrt. Die Nikopolidou hätte da einfach nicht vorbeilaufen dürfen, wo die gejoggt ist!«
»Nicht nur abgesperrt war alles, der Steff hat auch ›Obacht‹ gerufen, wie er mit der Säge zum letzten Schnitt angesetzt hat. Ich hab es ganz genau gehört. Und ich hab zum Steff am nächsten gesägt, ich war vielleicht vierzig Meter weg. Und
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