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Hirschkuss

Hirschkuss

Titel: Hirschkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Steinleitner
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dunkel. Nur rechts unterhalb von sich meinte Anne einen lichteren Waldabschnitt zu erkennen. Kurz entschlossen und mit trotzigem Blick stieg sie durch das Gehölz hinab. ›Laufe ich eben einen Bogen um diesen Wichser‹, dachte sie und stapfte trotzig drauf los.
    Als Anne etwa zehn Minuten gelaufen war, hörte sie Rufe: »Frau Loop! Frau Loop! Jetzt kommen’S doch!«
    »Kommen’S doch … kommen’S doch«, hallte das Echo des Waldes wider.
    »Es kommt ein Wetter!«
    Das Echo folgte sogleich: »Ein Wetter … ein Wetter.«
    Doch Anne reagierte nicht auf die Rufe des Jägers. Viel zu groß war ihre Angst. Außerdem war sie beleidigt. Der würde eine saftige Anzeige bekommen. Je länger sie lief, umso ruhiger wurde sie. Allerdings nahm sie auch wahr, dass der Regen stärker wurde. Und der Wald wurde keineswegs lichter. Die hellere Stelle, die sie zu sehen geglaubt hatte, hatte sich als eine Art Fata Morgana entpuppt, ein Stück Waldboden, auf dem helleres Moos wuchs. Die vermeintliche Lichtung lag bereits eine Weile zurück, da schreckte Anne auf. Im Dickicht knackte etwas. Sie blieb stehen, griff nach ihrer Dienstwaffe und suchte den Wald ab, aber da war nichts. Wenig später raschelte es unversehens, und Anne sah gerade noch, wie ein größeres Tier durch die Büsche brach. Es hatte graues Fell, aber Anne konnte nicht genau erkennen, was es war. Die Polizistin fühlte sich plötzlich fröstelig. Vor einigen Jahren hatte sich einmal ein Wolf nach Bayern verirrt.
    Anne spürte, dass ihre Regenjacke das Wasser nicht mehr hielt. Ihre Uniformbluse wurde nass. Wie konnte es im Frühsommer nur so kalt sein? Die Bergschuhe, die sie eigens für den Trip in den Wald angezogen hatte, waren auch längst durchnässt. Die feuchten Socken rieben auf der Haut. Anne blieb stehen. Weiter unten knackten erneut Äste. Dann zuckte sie zusammen. Was war das für ein Kreischen? Ein schrilles, hohes Kreischen. Schrie da jemand um Hilfe? Doch hatte diese Stimme so rein gar nichts Menschliches an sich. Die Polizistin lauschte. Das Kreischen näherte sich. Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche. Es war bereits fünf Uhr durch. Sie musste zusehen, dass sie nach Hause kam. Lauernd spähte sie in die Richtung des Kreischens. Dann krachte es, als fiele ein größerer Baum auf kleineres Gehölz. Anne blieb wie angewurzelt stehen. War Singer jetzt hinter ihr her? Doch schon war der Wald wieder totenstill. Aber nur kurz – bis ein »Tschiep, tschiep« Annes Blick nach oben lenkte. Ihr wurde schwindelig.
    »Bist nicht lieb, bist nicht lieb«? Anne lauschte – hörte sie das jetzt wirklich, oder wurde sie allmählich verrückt? »Ein Hieb für’n Dieb, ein Hieb für’n Dieb …« Im Kopf der Ermittlerin kreisten wirre Gedanken. ›Ich muss mich zusammenreißen. Ich bilde mir das nur ein.‹ Aber das Tschiepen nahm kein Ende, und ihr Kopf formte echte Wörter, eine beängstigende Nachricht daraus. Sie blickte nach vorn. Da war ein Felsbrocken, ein Findling, da waren Baumstämme, Fichten, Buchen, Birken. Aber da war nicht die erhoffte Bergweide in Sicht. War der Wald so groß? Lief sie im Kreis? Sie prüfte noch einmal die Uhrzeit. Wenn sie jetzt zurückging, war Singer vielleicht schon weg. Vielleicht konnte sie sich auch unbemerkt an der Almhütte vorbeischleichen. »Hieb für’n Dieb, Hieb für’n Dieb …« Sie durfte dem Jäger auf keinen Fall in die Arme laufen. Fast wie ein Tourettekranker war er ihr vorgekommen. Egal. Sie würde ihn anzeigen. Wegen Beleidigung. Das würde den Druck auf ihn erhöhen.
    »Tschiep, nicht lieb, tschiep, nicht lieb.« Dieser Vogel machte sie verrückt.
    Anne schüttelte das Wasser von der Jacke und beschloss, umzukehren, den Weg, den sie gekommen war, zurückzugehen. Sie konnte ja ihren eigenen Spuren folgen. Die Polizistin ging einige Schritte zurück, aber da waren keine Spuren! ›Dann muss ich mich eben auf mein Gefühl verlassen.‹ Anne lief weiter. Doch sie ging jetzt anders: wachsamer, nach allen Seiten sichernd, beinahe schleichend wie ein wildes Tier. Sie hatte Angst. Da konnte das Engelchen in ihrem Kopf noch so oft wiederholen: ›Ich habe doch keine Angst. Ich habe doch keine Angst.‹ Das Teufelchen sagte immer wieder: ›Ich habe Angst, ich habe Angst.‹ »Tschiep, nicht lieb, ein Hieb.«
    ›Was sollte das mit dem Hieb?‹ Vor Annes innerem Auge tauchte das Bild eines Mannes auf, der eine Axt schwang. Der Mann war riesig. Wenn Anne für einen Moment die Augen schloss, dann sah sie das

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