Hirschkuss
Polizistin, immer noch die Decke über den Schultern, aus dem Auto, eilte über den kleinen Weg zum Haus und sperrte auf. Im Flur lag ein Zettel: »Liebe Mama, bin schon ins Bett. Morgen ist Schule. Kannst ja nächstes Mal vielleicht anrufen, wenn du so spät heimkommst. Deine Lisa«
»Große Tochter«, flüsterte Anne. »Was habe ich nur für eine große Tochter!« Sie spürte Tränen in den Augen. Das Telefon zeigte drei entgangene Anrufe. Johann hatte versucht, sie zu erreichen. Anne blickte auf die Uhr. Es war schon zwei vorbei. Johann schlief sicher seit Stunden. Sie rief ihn dennoch an. Irgendwem musste sie von der Irrfahrt im Wald erzählen. Johann gähnte. Aber er hörte zu. Während Anne berichtete, ließ sie die Badewanne einlaufen. Am Ende des Gesprächs verabredeten sie sich für das Wochenende. Anne war gerettet. Und zwar in mehrerlei Hinsicht.
Der Müllsack wurde vermutlich in den 1950er Jahren von den Kanadiern Harry Wasylyk, Larry Hansen und Frank Plomp erfunden.
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ACHT
Mittwoch
Wegen des Fahrgeräuschs des Schnellzugs war Anne gezwungen, sehr laut zu sprechen. »Hallo, Seppi, ich bin’s«, rief sie in ihr Handy. »Ich bin im Zug, ich fahre nach Düsseldorf!« Anne stand vor der Toilettentür des ICE . »Nein, ich bin nicht verrückt, ich will mir nochmal anhören, was die Frau vom Mattusek zu sagen hat.« Zwei nach Schweiß riechende Teenager schoben sich an Anne vorbei. »Seppi, ich kann jetzt nicht ewig mit dir diskutieren, die Sprachqualität ist … Seppi, ich höre dich fast nicht. Sag Nonnenmacher Bescheid. Ich bin morgen wieder in der Dienststelle … Jetzt versteh ich dich nicht mehr … Ciao.« Mit einem Lächeln auf den Lippen drückte Anne den Kollegen weg. Natürlich hatte sie Kastner bestens verstanden, aber sie hatte keine Lust auf Diskussionen gehabt. Erstens war sie noch kaputt von dem nächtlichen Waldabenteuer, und zweitens war sie sich sicher, dass sie das Richtige tat. Neben dem Jäger hatte Cindy Mattusek definitiv das stärkste Motiv, dem Holzinvestor Böses zu wollen. Natürlich war es etwas schwer vorstellbar, wie die zarte junge Frau den Mord von Düsseldorf aus bewerkstelligt haben konnte, aber auch wenn Anne sie undurchschaubar fand – auf den Kopf gefallen war Cindy Mattusek nicht.
Gerade als sie sich im Bordrestaurant des Zugs an einem freien Tisch niedergelassen hatte, klingelte erneut das Handy.
»Frau Loop, wo sind Sie?« Anne erkannte die bollerige Stimme ihres Chefs sofort.
»Im Zug. Ich verstehe Sie fast nicht.« Anne nickte dem Kellner in der Bahnuniform aufmunternd zu.
»Ja, das denk ich mir, dass Sie nix verstehen. Ich nämlich auch nicht. Was soll diese Aktion? Was machen Sie im Zug? Sie haben Dienst!«
»Ich fahre …« Anne wandte sich einen Moment dem Ober zu, der an ihren Tisch gekommen war, und sagte mit gedämpfter Stimme: »Einen Piccolo und ein Stück Schokokuchen, bitte.« Der Mann nickte und zog ab.
»Was?«, schrie Nonnenmacher. »Sektfrühstück mit Schokokuchen? Ja, jetzt schlägt’s dreizehn! Wo sind mir denn hier?« Seine Stimme überschlug sich. »Wo ist Ihr Urlaubsantrag?«
»Aber ich arbeite doch, Herr Nonnenmacher!« Auf einmal fühlte Anne sich erschöpft. Sie musste dieses Gespräch beenden.
»Arbeiten! Und der Sekt?«
»Brauche ich, mein Kreislauf ist total down. Ich habe heute Nacht fast nicht geschlafen – auch wegen unserer Arbeit!«
»Das war alles nicht abgesprochen! Sie haben sich mutwillig in Gefahr gebracht!«, dröhnte die Stimme des Dienststellenleiters aus dem Telefon. »Und jetzt bringen Sie mutwillig Ihre Arbeitsstelle in Gefahr. Wer hat Ihnen erlaubt, einfach so nach Düsseldorf zu fahren? Was soll das?«
Anstatt zu antworten, legte Anne einfach auf. Der alte Poltergeist konnte sie doch mal! Als das Telefon Sekunden später erneut klingelte, drückte sie den Anruf – es war wieder Nonnenmacher – weg und schaltete das Handy aus. Wenn sie an den Chef dachte, erfüllte sie plötzlich eine grenzenlose Gleichgültigkeit. Es war, als hätte die Angst, die sie gestern Nacht im Wald verspürt hatte, etwas in ihrem Inneren verändert. Anne fühlte sich matt, aber gleichzeitig war sie sich sicher, dass sie genau das Richtige tat. Zu viele Menschen waren in den vergangenen zwei Wochen gestorben, als dass man sich noch irgendwelche provinzielle Gemütlichkeit leisten konnte. Wäre sie zu Hause geblieben, hätte sie sich nur wieder um angesägte Uferstege oder Bußgelder für Falschparker kümmern
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