Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hirschkuss

Hirschkuss

Titel: Hirschkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Steinleitner
Vom Netzwerk:
dunkelhäutige Gesicht. Fratzenhaft und unscharf. Aber sie erkannte ihn: Es war der Holzfäller Josef Hannawald. Was sollte das? War sie auf dem besten Weg, verrückt zu werden?
    Als Anne das nächste Mal auf die Zeitanzeige des Mobiltelefons blickte, war es bereits sechs. Sie blieb stehen. Was war das für ein hohes Fiepen? Sie schaute suchend nach oben. Wenig später hörte sie wieder dieses unmenschliche Kreischen, das sie vorhin bereits wahrgenommen hatte. Doch nun erhielt es eine Antwort. Ein anderes Wesen kreischte zurück. Und dann knisterte es im Wald, ganz nah. Ein Vogel mit schwarz-weiß gestreiftem Bauch rauschte auf Armlänge an Annes Gesicht vorbei. Seine Flügel hatten eine Spannweite von mindestens einem Meter. Er gickerte. Anne schluckte. ›Ich muss hier raus, so schnell wie möglich.‹
    Kurz entschlossen nahm sie all ihren Mut zusammen und rief: »Hallo?« Ihre Stimme klang zittrig. Nur das Echo antwortete ihr: »Lololo.«
    »Haaaalloooo!«, rief sie noch einmal. »Lololo.« Das Kreischen verstummte kurz. Anne hielt den Atem an. Am Hang, nur wenige Meter über ihr, rauschte schon wieder etwas – noch ein Vogel. Schnell blickte sie hinauf, aber sie konnte nichts erkennen, weil dort die jungen Fichten besonders dicht beieinander wuchsen.
    »Scheiße«, zischte sie leise. Ihre Finger waren eiskalt. In welch eine Situation hatte sie sich gebracht? Wie leichtsinnig konnte man sein? Warum hatte sie so unsouverän reagiert? Warum hatte sie sich von Singer provozieren lassen? Sie hätte einfach schweigen sollen, zurück zum See fahren, alles den Kollegen erzählen, Singer vorladen, förmlich, verfahrensmäßig, wozu gab es Gesetze? Stattdessen stand sie hier, im regennassen Walddickicht und wusste nicht, wo Tal und Gipfel waren. Und es würde ein Gewitter kommen. Unversehens stieg Angst in ihr auf. Ein weiterer Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie jetzt zu Hause sein sollte. Sie steckte das Handy weg. Lisa würde gleich vom Hort kommen. Anne zog das Handy wieder hervor und wählte ihre Festnetznummer.
    Sie hatte keinen Empfang.
    Jetzt spürte Anne einen wirklich dicken Kloß im Hals. Sie hatte einen Fehler gemacht. Panikartig setzte sie sich wieder in Bewegung. Sie musste den Weg finden, den sie gekommen war. Doch sie hatte sich nicht auf die Merkmale des Waldes konzentriert. Kein einziger der Äste, über den sie kletterte, kam ihr bekannt vor. Es war geradeso, als liefe sie hier zum ersten Mal. Die Wut über Singers Beleidigungen hatte sie blind gemacht. ›Schlampe‹ hatte er sie genannt! ›Einen blasen‹ solle sie ihm!
    Von dem Areal, in dem die Holzfäller arbeiteten, musste sie weit weg sein. Schon lange hatte sie keinen gefällten Baum mehr gesehen. Wieder krachte es im Wald, dieses Mal drang das Geräusch vom Tal herauf. Ein erneuter Blick aufs Handy: kein Empfang.
    ›Meine Knie, warum werden die so weich? Ich habe Hunger.‹ Annes Mund fühlte sich trocken an, wie ein Stück Zeitung. Ihr Blick fiel auf einen schmalen Baumstumpf. ›Ich muss eine Pause machen. Ich muss nachdenken, ich brauche einen Plan. Ruhig, gaaanz ruhig.‹ Anne ließ sich auf die Überreste des Baums fallen. Es rumpelte, sie erschrak, fiel, lag im Dreck, riss sich sofort wieder hoch. Ein knisterndes Geräusch war zu hören. Der Stumpf war umgekippt. »Fuck.« – Aber dann: Anne traute ihren Augen nicht: Mitten in der Waldwildnis lagen da zwei Plastiktüten, groß und grün. Kurz spürte Anne Erleichterung. Plastiktüten, das war Zivilisation. Die Säcke waren ordentlich verschnürt.
    ›Bitte keine Leichenteile! Bitte keine Leichenteile!‹
    »Tschiep, tschiep, ein Hieb, nicht lieb.«
    ›Bitte keine Leichenteile. Sonst werde ich verrückt.‹
    Sie fummelte den Knoten des ersten Sacks auf. Nach dem Abtasten des Kunststoffs hatte sie es bereits vermutet: Der Sack enthielt ein Gewehr. Sie besah es kurz, es war leicht, schwarz, hatte ein Zielfernrohr. Eine Schachtel mit Patronen war auch dabei. Hastig knöpfte sie den zweiten Sack auf – und fand ein Geweih. Ein Geweih! Kein großes, es musste von einem jüngeren Hirsch stammen, denn es hatte erst wenige Spitzen. Wieder erklang das unheimliche Gekreische. Kurz entschlossen griff sich Anne die beiden Tüten und schleppte sie weiter durch den Wald.
    Das Handy zeigte bereits acht Uhr dreißig an. Wie konnte die Zeit so schnell vergehen? Der Wald war mit einem Mal so dunkel, dass sie nur noch einige Meter weit sehen konnte. Aber der Fund in den Plastiktüten hatte ihren

Weitere Kostenlose Bücher