Hirschkuss
Willen wiederbelebt. Sie dachte an ihre Tochter. ›Sicher wird Lisa jetzt jemanden verständigen. Oder nicht? Wird Lisa jemanden verständigen?‹ Anne spürte Tränen in den Augen. ›Meine liebe kleine Lisa …‹ Sie stolperte, fiel, fing sich gerade noch ab. »Autsch!« Ihre linke Hand tat weh. ›Ich muss weiter! Fucking Dunkelheit! Fucking Wald! Seppi muss mich doch vermissen! Oder?‹ Sollte sie den kostbaren Handyakku dazu verwenden, sich den Weg zu leuchten? ›Wenn ich die Nacht im Wald verbringen muss, bin ich froh, wenn der Akku noch geht … Aber ich will die Nacht nicht im Wald verbringen! Er ist fucking unheimlich, verdammt.‹ Anne blickte auf das Display. Halluzinierte sie? Stimmte das, was sie sah? Das Mobiltelefon zeigte plötzlich einen Strich für Empfang an. Ein Strich war nichts, aber ein Strich war immerhin ein Strich! Heftig atmend wählte sie Kastners Nummer.
»Ja, Anne, wo bist du denn?« Kastners Stimme klang, als säße er in einem Gartenhäcksler. Aber Anne hätte Kastner für seine Erreichbarkeit küssen können.
»Ich bin immer noch im Wald, Sepp«, rief Anne aufgeregt.
»Ja bist du deppert? Wo bist du denn?«
Gerade, als sie antworten wollte, erlosch das Licht des Displays. Der Akku … Stockfinster war es jetzt. Der Kontrast zu der kurzen Helligkeit von gerade eben machte den Bergwald mit einem Mal noch dunkler. Anne hörte ihren eigenen Atem. ›Ich muss ruhig bleiben. Ganz ruhig atmen. Sepp weiß, dass ich hier bin. Sepp weiß, dass ich hier bin. Sepp wird mich suchen.‹ In ihrer linken Hand knisterten die beiden Plastiksäcke. Anne blieb stehen, ließ sie auf den Boden gleiten und zog das Gewehr aus dem einen Sack. Dann breitete sie ihn auf dem Boden aus und setzte sich darauf. Das Gewehr legte sie neben sich und zog ihre Dienstwaffe aus dem Holster. Wenn Singer käme, würde sie sich zu wehren wissen.
Anne musste in einen tiefen Schlaf gefallen sein. Plötzlich schreckte sie auf. Wie lange hatte sie geschlafen? Da sah sie es, weiter unten, talwärts: Lichter! Es mussten die Kegel mehrerer Taschenlampen sein, oder Suchscheinwerfer. Anne hörte Männerstimmen. Ein Hund bellte. ›Träume ich?‹ Nein, das war echt. »Hier bin ich!«, rief Anne, ihre Stimme klang seltsam gebrochen. Als sie den Mann erkannte, der sie als Erster erreichte – er trug einen Lodenmantel –, durchfuhr sie ein Schreck: Blasius Singer, neben ihm sein Hund Seehofer, reichte ihr die Hand. Anne ergriff sie widerwillig und ließ sich hochziehen. Misstrauisch sah sie den Jäger an. Doch seine Hand war warm. Dann kam auch Kastner angekeucht, und fünf Männer in der rot-blau gefärbten Kleidung der Bergwacht, begleitet von zwei Hunden.
Keiner verlor ein Wort zu viel.
»Wo kommt das Gewehr her?«, wollte der Jäger wissen. »Das ist ein großkalibriges Jagdgewehr, dafür braucht man eine Erlaubnis.«
Mit leisen Worten erklärte Anne ihm, wie sie die beiden Plastiksäcke gefunden hatte. Einer der Retter legte ihr eine Decke über die Schultern. Anne fror, sie war patschnass. Der Jäger schaute in den anderen Plastiksack. Beim Abstieg nahmen Kastner und einer der Bergwachtler Anne in die Mitte. Erst im Auto spürte sie angesichts der Wärme der Heizung, wie durchgefroren und nass sie tatsächlich war.
»Das sind einmal eindeutig Wildererutensilien.«
Kastners Satz war der einzige, der Anne von der Autofahrt zurück ins Dorf in Erinnerung blieb. Sie lehnte es ab, ins Krankenhaus gebracht zu werden. »Mir fehlt nichts. Ich will nur nach Hause. Fahr mich bitte heim, Seppi. Und gib mir dein Handy, ich muss sofort Lisa anrufen. Die ist allein.« Doch Lisa ging nicht ans Telefon. »Scheiße, Seppi, fahr schneller. Da stimmt was nicht.«
»Die wird halt schlafen«, versuchte Kastner sie zu beruhigen.
Dann schwiegen beide, bis Anne sagte: »Der Singer ist ein Schwein.«
Kastner antwortete nicht sofort, aber dann hob er die Schultern und meinte leise: »Weißt fei schon, dass du ohne den Singer die Nacht im Wald verbracht hättest. Der ist ziemlich sauer auf dich. Er meint, du hast dich dumm verhalten. Der Singer war es, der wo dich vermisst gemeldet hat.«
Anne schüttelte den Kopf. Singer hatte sie schwer beleidigt. Und sie war sich alles andere als sicher, ob sie den Jäger von der Liste der Verdächtigen streichen konnte. Daran, dass er offensichtlich ein Problem damit hatte, seine Aggressionen zu kontrollieren, änderte auch ihre Rettung nichts.
Mit einem hastigen »Ciao Seppi« sprang die
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