Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin
in diesem Verlies eine Wärme, als habe man in einem Kamin ein loderndes Feuer entfacht.
»Wo kommst du nur her, du armer Wicht?«, fragte Hiske in die Stille hinein. Darauf bekam sie natürlich keine Antwort. Sie hatte sie auch nicht erwartet. Wie sollte der Junge ihr das auch sagen können, sicher hatte er keinerlei Erinnerung.
»Bauchfreude«, sagte er dann. »Wortsammler Bauchfreude.« Seine Worte gingen in eine Art Gesang über, dessen Bedeutung die Hebamme jedoch nicht verstand.
Der Junge hatte Hunger. Sie erinnerte sich, dass die Wärter mit ihr zusammen eine Schale in die Zelle geschoben hatten. Hiske robbte zurück, fand das Gefäß, nachdem sie mit dem Fuß dagegengestoßen und es an der Steinwand zerscheppert war. Sie tastete sich durch die Scherben und schnitt sich in den Zeigefinger, doch störte sie sich nicht daran. Sie suchte weiter, bis sie schließlich einen harten Brotkanten zwischen den Fingern hielt. Hiske drehte sich zum Wortsammler um, der Laute ausstieß, die sie nicht zuordnen konnte.
»Bauchfreude!«, lockte Hiske ihn. »Guck, Bauchfreude!«
Der Wortsammler hielt in seinem monotonen Singsang inne und wartete, bis Hiske zu ihm zurückgekrabbelt war. Dann riss er ihr den Kanten aus der Hand und nagte daran herum, bis er ihn ganz verspeist hatte. Hiske wartete ab. Der Junge war völlig verstört. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass er ihr etwas sagen wollte und nach den richtigen Worten suchte. Worte, die ihm fremd waren, Worte, deren Bedeutung er zwar täglich mehr verstand, die er aber noch nicht aus seinem Innersten lösen und artikulieren konnte.
Als der Wortsammler aufgegessen hatte, rückte sie so nah es ging zu ihm. Tatsächlich hatte er noch so viel Spiel in seiner Kette, dass es ihnen nun möglich war, sich ganz zu berühren. Hiske nahm den Jungen in den Arm und strich beruhigend über sein Haar. Sie wusste aus eigener Erfahrung, wie sehr man sich in einer Situation wie dieser nach Nähe sehnte. In Jever war sie ganz allein gewesen, und auch jetzt rechnete sie mit keinerlei Unterstützung. Wer sollte schon seinen Kopf für sie hinhalten? Es gab in der Herrlichkeit niemanden, dem sie so nahegekommen war, dass er sich für sie verwenden würde.
Der Junge schluchzte. Es war fast lautlos, und doch war es ein Weinen, das ihn bis ins Mark erschütterte. Nach einer Weile setzte er sich auf, stieß Hiske sacht fort und sagte: »Weib – Bauchfreude.« Dabei schüttelte er den Kopf.
»Weib?«, fragte Hiske nach. »Ich, Weib?«
Der Wortsammler verneinte. »Lebenspflückerin –Bauchfreude, Weib Bauchfreude.«
Es gab also noch eine Frau, die dem Jungen zu essen gegeben hatte.
»Wer ist das Weib?«, fragte sie, doch sein Mund blieb verschlossen. Er konnte nicht sagen, wer es war, aber dennoch löste Hiskes Frage in ihm eine unverständliche Panik aus. Er schlug mit einem Mal mit den Armen um sich, weinte laut und wankte mit dem Oberkörper hin und her. Dann riss er die Augen auf, schrie »Weib!« und sackte reglos in sich zusammen.
»Ist das Weib, das dir Bauchfreude gegeben hat, deine Mutter?«, fragte Hiske, doch der Knabe gab keinen Ton mehr von sich.
Anneke hatte gesehen, wie der Junge mit angstvollem Blick über den Burghof gezerrt worden war, und sie hatte auch gesehen, wie sie die Hebamme geholt hatten. Es war nicht rechtens, was sie taten, denn die Marketenderin war sich sicher, dass beide nichts mit den Morden zu tun hatten. Es ergab keinen Sinn, warum hätten sie das tun sollen?
Anneke war eine verschwiegene Frau, wie sonst könnte sie ihre Arbeit tun? Kein Wort kam je über ihre Lippen, wenn sie einen Freier vom Wagen ließ, nie würde sie einen verraten. Genauso hatte sie es gehalten, als sie die Kinder auf die Welt geholt hatte. Dem ersten Kind hatte sie vor etwa zehn Jahren auf die Welt geholfen, zusammen mit der alten Hebamme. Sie hatte Anneke ein paarmal mitgenommen, weil sie sich als Mädchen dafür interessiert hatte, nicht ahnend, dass sie nach dem Tod der Geburtshelferin selbst als solche fungieren musste, weil einfach kein anderes Weib dazu bereit war.
Als sie der ersten Entbindung mit ihren damals zehn Jahren beigewohnt hatte, war sie erschrocken über die Schmerzen, die eine Geburt verursachte, und Anneke war sicher, dass sie auch aus dem Grund nie geheiratet und selbst Kinder in die Welt gesetzt hatte. Sie wollte diese Pein nie am eigenen Leib erfahren.
Die Hebamme aber hatte sie das große Schweigen gelehrt. »Hör zu, Anneke, was du hier siehst und
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