Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin
hörst, muss für immer hinter deinen Lippen versiegelt bleiben, selbst wenn Gott die Frauen längst zu sich gerufen hat. Erwischt dich eine dabei, dass du tratschst, wirst du zu keiner mehr gerufen. Eine Geburt ist eine Sache zwischen Mutter, Kind und Hebamme und sonst niemandem. Jeder Hebamme, die redet, muss die Zunge herausgeschnitten werden.«
Anneke hatte sich die Worte der weisen Frau sehr zu Herzen genommen und nie ein Wort über die Geburten, bei denen sie dabei war, verloren. Doch nun regte sich eine Stimme in ihr, die ihr sagte, dass sie dieses Schweigen brechen musste, zumindest in diesem einen Fall. Sie musste reden … Sie musste es loswerden, sonst würde sie an der Schuld ersticken, würde ihres Lebens nicht mehr froh.
Anneke schlug ihr Tuch um den Kopf, nicht weil es kalt war, sondern, damit sie nicht sofort auffiel. Sie hängte die Plane vor ihren Wagen und schlich sich vom Burghof. Es wurde Zeit, dass sich etwas änderte, sonst waren sie alle des Todes. Mit jedem Schritt, den sie tat, war ihr, als mache sie ihn in die richtige Richtung.
Hiske rüttelte an dem Wortsammler. Er schlug die Lider auf, Hiskes Augen hatten sich mittlerweile so weit an das Dämmerlicht gewöhnt, dass sie alles erkennen konnte. Die Scherben der irdenen Schüssel hatte sie notdürftig mit den Füßen in eine Ecke geschoben, sie war froh, dass man ihr die Lederschuhe gelassen hatte. Der Wortsammler trug nichts an den nackten Füßen, aber er schien es gewohnt zu sein. Die rechte Fessel war von einer tiefen und breiten Narbe überzogen, die von einer schon vor langer Zeit erlittenen Qual zeugte.
»Wortsammler, was ist mit dem Weib?«
Sie musste einfach wissen, warum der Junge vorhin so in Panik geraten war. Die ganze Zeit hatte sie überlegt, wen der Knabe mit dem »Weib« meinen konnte. Zuerst war ihr Anneke in den Sinn gekommen. Sie schlief mit so vielen Männern, vielleicht war sie von einem schwanger geworden und hatte sich dann des Kindes entledigt? Nur warum wusste keiner davon? Wenn ein Kind auf so engem Raum das Licht der Welt erblickte, war das keine Sache, die geheim blieb.
»Es sei denn, man geht ins Moor. Ganz allein«, flüsterte sie. Anneke wusste, wie man Kinder auf die Welt holte. Woher, wenn sie kein eigenes hatte und nicht wie sie selbst in die Lehre gegangen war? Doch Anneke war jung. War das die Lösung? Dass sie als Kind, als sehr junge Frau, selbst ein Kind bekommen hatte?
Hiskes Gedanken drehten sich im Kreis, denn es war klar, dass der Junge einen Teil seines Lebens bei einem Menschen, wenn auch versteckt, verbracht haben musste, zumindest so lange, bis er sich selbst ernähren konnte.
»Wortsammler?«, hob Hiske an. »Woher kennst du dich im Moor so gut aus?«
Der Junge schwieg. Es war sinnlos, er verstand sie doch nicht. Er lebte ganz in der Welt seiner neuen Wortschöpfungen und war einfach nicht in der Lage, ihr eine vernünftige Auskunft zu geben.
»Moorwiege«, sagte er schließlich. »Rabennacht. Bauchfreude.«
Hiske horchte auf. Sie hatte auf Anhieb verstanden, was er ihr sagen wollte. Er war im Moor aufgewachsen, eingesperrt, und in der Nacht war immer jemand gekommen und hatte ihm zu essen gegeben.
»Wer?«, flüsterte Hiske. Ihr schlug das Herz bis zum Hals.
Der Junge schloss die Augen. Dann sagte er: »Weibliebe.« Schließlich öffnete er die Augen, sah Hiske an, und ihr war, als ginge ihm genau in diesem Augenblick eine Erinnerung durch den Kopf, die er lange Zeit verdrängt hatte. Er nickte immer wieder, als müsse er sich dadurch die Richtigkeit der Worte noch einmal bestätigen, und sagte: »Weibeule.«
Hiske seufzte. Der Wortsammler hatte sie wohl doch nicht verstanden. Es war sinnlos. »Ich hole uns hier raus«, sagte sie, doch ihr war selbst klar, wie hohl ihre Worte klangen.
Wer war nur so sehr daran interessiert, dass sie und der Knabe aus dem Verkehr gezogen wurden, ja, am besten sogar starben? Natürlich konnte es Dudernixen sein. Vielleicht hatte seine Frau dieses Kind geboren und, aus welchen Gründen auch immer, ausgesetzt. Den beiden traute sie so ziemlich alles zu. Doch der Wortsammler passte schon vom Aussehen her nicht zu den beiden. Er hatte liebe Augen, ein bisschen tragisch. Sie hatte diesen Blick schon einmal gesehen.
»Wortsammler«, stieß sie den Jungen an, »wer ist das Weib? Wer ist Weibeule?«
Der Junge sah ihr in die Augen, und dann erkannte sie ihn.
Jan fand Garbrand und Adele vor dem erloschenen Feuer in der Küche. Ihr Schnarchen war ihm
Weitere Kostenlose Bücher