Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin
Immer, wenn er diese Gedanken zuließ, schob sich ein Gesicht vor sein inneres Auge. Er hatte versagt, auf ganzer Linie. Nicht als Arzt, sondern als Mensch und als Freund hatte er gesündigt, sodass es egal war, welcher Religion er fortan diente. Er würde sein Seelenheil nicht wiederfinden, es war ihm nie wieder vergönnt, glücklich zu sein. Keine Ablenkung der Welt hatte es bis jetzt vermocht, seine Ruhelosigkeit zu bändigen, ihm seinen Frieden zurückzugeben. Das war sein Schicksal, unabdingbar und in Stein gemeißelt. Er musste den Brief überbringen, durfte ihn nicht der See übergeben, denn das würde weitere Menschen ins Unglück stürzen. Die, die sich auf ihn verließen.
Er würde sich sein Leben lang in Gefahr begeben, weil er nie einen Grund finden würde, es nicht zu tun. Auf ihn wartete niemand, und so konnte er auch Krechting und seinen Leuten helfen. Sie waren in Jans Augen die ehrlichsten Gläubigen, wenn es so etwas überhaupt gab. Er hatte von Ascheburg einmal persönlich kennengelernt, war von seiner charismatischen Art, seiner Überzeugung, die von innen her brannte, fasziniert gewesen. Krechting sollte noch imposanter sein, noch beeindruckender. Er hatte ebenfalls an der Seite Jan van Leydens in Münster gelebt und vermutlich eine Menge von seiner Energie mitbekommen.
Jan war von Ascheburg kurz nach dem Tod der Frau begegnet, die ihn bis heute an einem zufriedenen Leben hinderte. An Glück mochte er ohnehin nicht mehr glauben, das stand ihm nach seinem Verhalten nicht mehr zu. Er, der diese Schuld auf sich geladen hatte und sich von jetzt an selbst als
vogelfrey
betrachtete.
Von dem Zeitpunkt an war es Jan wichtig gewesen, sich zu beweisen. Er hatte sich auf Dinge eingelassen, die er besser hätte nicht tun sollen, denn nun klebte auch an seinen Händen das Blut Unschuldiger. Erst mit Garbrands Auftauchen war ihm das bewusst geworden, doch nun war es zu spät. Er steckte so tief in der Sache, dass er nicht wieder herauskam, obwohl ihm in Augenblicken wie diesem klar wurde, dass sich die Schlinge um seinen Hals immer fester zog und er vielleicht schon bald den Kopf für immer in die moorige Erde tauchen würde. Jan fand es selbst erschreckend, wie egal ihm das war.
Garbrand hustete erneut, es war überall an Deck zu hören. Der Husten klang schauderhaft, nur waren dem Arzt die Hände gebunden. Es gab kein heißes Wasser, mit dem er dem Mönch hätte Kräuterwickel machen können, seine ihm verabreichte Medizin hatte kaum Linderung gebracht. Jan hoffte, dass Garbrand das feuchte Klima Ostfrieslands gut vertragen würde, schließlich war ja auch England nicht mit Trockenheit gesegnet. Im Augenblick wäre es am besten für ihn gewesen, wenn er irgendwo in den Süden hätte reisen können, zum Beispiel nach Rom in die Heilige Stadt oder wenigstens nach Pisa. Doch ohne Jan wollte er das nicht. Sie waren aneinandergekettet, zwei Ertrinkende, die sich gegenseitig über Wasser hielten, ohne den wirklichen Grund zu kennen, warum sie überhaupt dort trieben.
Jan sah hinunter zu den Planken, die leicht knirschten und zu schwanken schienen. Die Flut hatte das Schiff eben vom Watt gehoben, und sie würden ihre Reise in das abgelegene Stück Welt fortsetzen. »Ich glaube, ich brauche wieder festen Boden unter den Füßen«, flüsterte er.
Hinrich Krechting blickte auf die angrenzenden Wiesen und ließ die letzte Zusammenkunft an sich vorüberziehen. Die Leute hatten es mit einer stoischen Ruhe hingenommen, dass er nun die neuen Ämter bekleidete. Viele hatten es sogar als Vorteil für die Täufer gesehen, weil gerade sie der Armenfürsorge besonders oft bedurften und sie nun einen von ihnen bitten konnten. Ein paar hatten jedoch enttäuscht mit dem Kopf geschüttelt, aber geschwiegen.
Krechting hatte sie danach in die Katakomben geführt, ihnen damit den Wind aus den Segeln genommen. Es war ein kluger Schachzug gewesen, den er vorher schon genau so geplant hatte. Diese Rechnung war aufgegangen, denn schnell war auch dem letzten Zweifler klar geworden, dass die Übernahme dieser Ämter ein Schutz für sie alle war und sich nichts, aber auch gar nichts änderte. Sie hatten im Keller der Opfer gedacht, für Maria van Beckum und Ursula von Werdum gebetet, die an einen Pfahl gebunden im Feuerrauch erstickt waren. Und für all die anderen, die als Ketzer ihr Leben lassen mussten. Karl V. ging erbarmungslos vor, hatte in den Niederlanden so viele von ihnen töten lassen. Die Scheiterhaufen loderten, und der
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