Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin
glaubte sie den Atem eines Menschen zu hören und leise Schritte, die dicht hinter ihr waren, wenn sie sich ein Stück bewegte. Tyde hatte nicht gewagt, sich umzudrehen, sondern war einmal rund um den Burghof gelaufen, hatte sich auch ins Lager getraut, wollte sich beweisen, dass sie sich irrte und keiner sie verfolgte. Ihre Schritte waren schneller und schneller geworden, bis sie schließlich völlig außer Atem am Eingang zum Keller angelangt war. Bis die anderen aus den Katakomben zurückgekommen waren, war es Tyde aber weiterhin, als schlichen graue Schatten um sie herum, als tanzten unsichtbare Gestalten ihren Reigen. Wo immer sie auch hingesehen hatte, glaubte sie den Rest eines dunklen Umhangs, die Spitze eines Messers aufblitzen zu sehen. Sie hatte das Gefühl gehabt, von Augen durchbohrt und aufgespießt zu werden. Der Feind war ihr auf den Fersen, gab sich nicht mit dem Tod ihres Mannes zufrieden. Er war überall, sie spürte seinen kalten Atem an ihrer Seele lecken. Doch als sie es schließlich gewagt hatte, den Blick über den Hof wandern zu lassen, war nur Hiske zu sehen, die mit starrem Blick an der Burgmauer lehnte und auf irgendetwas wartete.
Selbst jetzt, wo die Sonne hoch am Himmel stand, an einem hellen und freundlichen Mittag im Mai, wo die Vögel aus vollem Halse sangen und das Grün der Bäume sich im Wettstreit mit den bunten Blüten der Büsche und Blumen befand, verschwand das Gefühl der Bedrohung nicht. Jedes Geräusch ließ Tyde zusammenzucken, jeder Windhauch schien, als bringe er Böses oder gar den Tod mit sich. Immer wieder glaubte Tyde, jemand greife nach ihr, taste in den Augenblicken, wo sie nicht aufpasste, über ihren Arm und kralle seine kalte Hand darum. Doch sie war allein mit ihrer Herrin im Ankleidezimmer. Die hatte den Kopf über einen Brief gebeugt, den sie immer wieder studierte, als könne sie dem Inhalt nicht glauben. Sie nickte ständig, räusperte sich, sagte aber keinen Ton zu dem, was sie da las. Tyde musste sich an diesem Ort nicht fürchten, sie war hier sicher.
Doch sie konnte den Gedanken an Cornelius und seine letzten Stunden einfach nicht verdrängen. Es war das schlechte Gewissen, das sie quälte. Sie trauerte nicht um ihren Ehemann, jedenfalls nicht, weil ihr seine menschliche Nähe fehlte. In der Hinsicht war sie beinahe froh, dass sie nicht mehr Teil seines Lebens war. Ihre Person war mehr ein Bruchstück seines Daseins gewesen, ein Mosaiksteinchen, das er brauchte, um sich fortzupflanzen, weil er das, neben dem Glauben, als seine Erfüllung gesehen hatte. Es war ausschließlich sein Leben, um das es die ganze Zeit gegangen war, sie hatte sich zu fügen. Das hätte Tyde nichts ausgemacht, sie konnte sich gut unterordnen, aber Cornelius schaffte es nie, sie als Person wahrzunehmen, ihr eine gewisse Anerkennung zu geben. Nicht als Frau, nicht als Geliebte. Seine Weibergeschichten waren erniedrigend und demütigend gewesen. Es war beschämend, wenn er nach der Magd roch oder nach der Seife der Marketenderin. Der brachte er sogar von dem guten Wein mit, an dem sie, Tyde, gerade mal schnuppern durfte. Es gab zu viele Frauen, die unter ihm, Cornelius, lagen. Er machte auch vor ihr keinen Hehl daraus, sah nicht, wie verletzend sein Verhalten für Tyde war. »Du bist eine Ostfriesische, die Frauen in Münster waren aus einem anderen Holz«, hatte er mal zu ihr gesagt, nachdem er sich von ihr gerollt und dieses Kind gemacht hatte, das nun unter ihrem Herzen wuchs und für das sie in irgendeiner Form aufkommen musste. Als er wusste, dass sie schwanger war, hatte er sie nicht mehr angerührt, war aber immer öfter spät nach Hause gekommen und hatte den Geruch anderer Weiber an seinen Kleidern und seiner Haut gehabt. Ob die Schwangerschaft sie empfindlicher gemacht hatte oder ob es ohnehin so gekommen wäre, Tyde vermochte es nicht zu sagen. Aber von Tag zu Tag war eine Abneigung gegen ihren Mann gewachsen, die sich zunächst darin äußerte, dass sie seinen Atem nicht mehr riechen mochte, dann ekelte sie seine Art zu essen und zu trinken, und schon bald konnte sie seine befehlende Stimme nicht mehr ertragen. Seine Art, in allem immer recht zu haben, sich ständig über ihre Bedürfnisse hinwegzusetzen, als gäbe es sie gar nicht.
Im Laufe der Monate war es zu einem schweigenden Miteinander gekommen, das aber nur ruhig schien, denn unter der geglätteten Oberfläche brodelte es. Weil sie nach außen hin funktionierte. Tyde gab sich weiter Mühe, ihrem Mann ein
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