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Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin

Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin

Titel: Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Regine Kölpin
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Art der Unterhaltung, und sie erfanden ein Wort nach dem anderen und schafften es, auch die Gefühle des Jungen zu beschreiben. Am Ende ihrer Lektion hängte er sogar schon Tätigkeitswörter an die Gegenstände, sein Wortschatz wuchs, als habe man einer vertrockneten Blume Wasser gegeben, und sie konnte nun in Windeseile aufblühen. Hiske erinnerte es an ein Gewächs, das ein Schausteller mal nach Jever auf den Markt mitgebracht hatte. Er nannte es »Die Rose von Jericho«. Sie sah verdorrt und unscheinbar aus, doch als der Mann sie in warmes Wasser gelegt hatte, entfaltete sie sich zu einer kleinen Schönheit. Genauso kam ihr der Wortsammler nun vor.
    Sie erschlossen seine Welt, die er mehr und tiefer erfasste als jeder andere Sterbliche, und sie gab ihm damit ein ganzes Stück Leben zurück.
    Es war schon spät, und Hiske fielen fast die Augen zu, während der Knabe nicht müde wurde, Worte zu suchen und zu sammeln. Nur ihren Namen sprach er nicht aus, und Hiske konnte nicht sagen, warum er sich weigerte. Wahrscheinlich wusste er es selbst nicht.
    Sie deutete auf ihr Bett, legte ihren Kopf auf die Hände und zeigte ihm so, dass sie schlafen meinte. Sie nahm eine Decke, die sie immer auf dem Stuhl liegen hatte, und breitete sie auf dem Boden aus. »Wortsammler Schlafplatz«, erklärte sie. Der Knabe legte sich sofort darauf nieder und rollte sich zusammen wie ein junger Hund. Doch seine Augen wanderten erneut unstet hin und her, suchten die Kammer ab, als erwarte er das leibhaftige Unheil. Er schien es nicht gewohnt zu sein, sich in einem geschlossenen Raum aufzuhalten, wieder begann er zu zittern. Hiske holte aus der Küche eine weitere Decke und breitete sie über dem Jungen aus.
    »Wenn du so schutzlos daliegst, sieht man erst, wie jung du noch bist«, flüsterte Hiske. »Wer hat sich so an dir versündigt?« Sie blies die Kerze aus und fiel augenblicklich in einen tiefen Schlaf.
    Der Knabe konnte nicht schlafen, obwohl sein Herz nicht mehr so rasch schlug wie noch zu Beginn der Nacht. Er war ruhig geworden, zum ersten Mal seit langer Zeit.
    Die Atemzüge der Frau, die ihm Worte schenkte, drangen an sein Ohr. Es war die erste Nacht, an die er sich erinnern konnte, die ihn nicht beunruhigte, und genau das machte ihn unruhig. Das konnte einfach nicht sein.
    Etwas stimmte nicht. Er wusste nur nicht, was es war.
    Er musste doch keine Angst haben, davongejagt zu werden, er musste sich nicht fürchten. Vor nichts. Die Frau passte auf ihn auf. Wenn er an sie dachte, schlug sein Herz schneller als sonst. Sie hatte liebe Augen, die nicht blitzten, wenn sie ihn sah. Sie gab ihm Bauchfreude, sodass sein Innerstes sich nicht aneinanderreiben musste, und er durfte auf einem Schlafplatz liegen. Sie hatte ihm Worte beigebracht, die denen ähnelten, die die Menschen im Lager sprachen. Er sah seine Welt um so vieles bunter. Es war, als habe er jetzt erst begonnen, als Mensch zu leben. Die Frau hatte ihm einen Namen gegeben, er war jetzt wer.
    So war noch kein Weib mit ihm umgegangen. Ja, jemand hatte ihm früher zu essen und zu trinken gebracht. Er hatte auch mal eine Hütte im Moor gehabt. Bis sie zusammengestürzt war. Jeden Tag war jemand gekommen, hatte ihm auch übers Haar gestrichen, ihn kurz gewiegt. Nur ein Gesicht hatte das Weib nicht gehabt. Es war immer verhüllt gekommen, lediglich die Augen konnte der Junge erkennen. Das reichte ihm. Die Augen und der Duft ihrer Haut. Doch würde er es nie mehr wagen, zu ihr zu gehen. Sie war jetzt wie alle anderen auch. Böse.
    Der Knabe aber hatte in den letzten Tagen die Stimmen gehört, die zwischen den Wagen an der Burg gefallen waren. Er hatte den Namen der Frau vernommen, und aus dem Mund der anderen hatte er nicht freundlich geklungen. Die Leute, die sein Meer einsperrten, die es abspenstig machten, waren auch auf die Frau, die sie Hebamme nannten, nicht gut zu sprechen. Er musste achtgeben, damit sie ihr nichts taten.
    Trotzdem konnte er hier nicht bleiben, auf gar keinen Fall. Hier war er nicht sicher, aber das wusste die Frau nicht. Er war nirgendwo sicher, wo andere Menschen waren, und in einem Haus wie diesem schon gar nicht. Er gehörte nicht hierher, durfte keine Mauern um sich, kein Dach über dem Kopf haben. Ihm stand allenfalls eine Scheune zu, deren Tor nie ganz verschlossen war.
    Der Knabe schlug die Decke zurück, sah auf die schlafende Frau und ging zur Tür. Er öffnete sie beinahe geräuschlos, schob sich in den Flur und von dort hinaus in die Mainacht. Er

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