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Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin

Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin

Titel: Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Regine Kölpin
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durfte nicht ruhen wie die anderen Menschen. Er war anders. Er war ein Wortsammler, ein Schatten, und nun hatte er jemanden gefunden, der zu ihm gehörte und den er schützen musste vor den bösen Menschen.
    Er huschte den Weg entlang, stahl sich bis zu Krechtings Haus, das zwar äußerlich ruhig dalag, von dem er aber wusste, dass der Mann darin des Nachts ebenso unruhig war wie er selbst. Nicht selten hatte der Wortsammler gesehen, wie er von Fenster zu Fenster lief, in die Nacht hinaussah und oft das Haus verließ, um im Garten auf und ab zu laufen. Er besuchte seine Bienenvölker und fand immer erst gegen Morgen Ruhe. All das wusste der Wortsammler, weil er gute Augen und Ohren hatte.
    Auch jetzt war der laute Mann in dem Haus wach. Er stand wie so oft an seinem Fenster und spähte hinaus. Der Knabe hielt die Luft an, versteckte sich hinter dem Zaun. Es war besser, wenn der Mann ihn nicht sah. Der Junge würde hier einfach warten. Er musste nur lange genug ausharren, dann würde sich der massige Körper des Mannes in die Nacht wälzen, wie er es immer irgendwann tat. So wie jetzt hatte er auch in jener Nacht dagestanden, als der andere Mann, dem er immer auf die Schulter geklopft hatte, im Gras gelegen hatte.
    Der Mann hinter dem Fenster war der, der den Männern jetzt sagte, dass sie das Meer einsperren sollten. Man durfte aber nichts einsperren. Einsperren war böse. Einsperren tötete und machte Angst. Der Mann am Fenster wusste sicher nicht, was Angst war, sonst würde er so etwas nicht befehlen. Der böse Mann hatte es auch nicht gewusst. Bis zum Schluss nicht.
    Und nun waren die anderen Menschen zu ihm gekommen, der Wortsammler hatte den Namen der Frau gehört und ihre scharfen Worte. Sie mochten die Frau nicht. Der Mann aber hatte nichts dazu gesagt. Er würde nur zusehen und hinterher klagen. Der Knabe erinnerte sich an das warme Nass, das an seinen Fingern heruntergeronnen war. Er wollte nicht, dass die junge Frau sich auch so anfühlte, denn wenn das geschah, dann lachten die Augen nicht mehr, und die Körper wurden kalt. Es war so, wie wenn er einem Huhn das Messer in den Bauch stieß. Oder einem Hasen.
    Der Mann am Fenster passte nicht auf seine Leute auf, war ein Mörder. Der Knabe zog sein Messer aus dem Strumpf, umschloss es fest mit der Hand. Er würde auf die Frau aufpassen, ganz bestimmt würde er das. Er würde den einzigen Menschen schützen, der gut zu ihm war.
    Jan sah zu Garbrand, der nur flach atmete, aber nicht schlief, denn seine Augen hatten sich in die sternenklare Mainacht geheftet.
    »Es wird bald Sommer«, hob Jan an. »Wenn wir in der Herrlichkeit sind, wird es warm und schön sein, und du kannst endlich genesen, mein Freund.«
    Der Mönch hustete zur Antwort. Jan legte seine Handfläche auf dessen Stirn. Sie war zu heiß.
    »Ich werde sterben, nicht wahr?«, flüsterte Garbrand. »Ich werde dieses Land, in das wir reisen, nicht mehr sehen.«
    Jan schüttelte den Kopf, doch er wusste selbst, dass es nur halbherzig war, denn sein Freund sprach die grausame Wahrheit. Es war einfach nicht gewiss, ob er es schaffen konnte. Jan benötigte andere Medizin, um Garbrand zu retten, sie brauchten ein warmes Feuer und ein richtiges Dach über dem Kopf. Nur war das auf diesem Schiff unmöglich. Die Reise schien sich endlos auszudehnen, die Menschen an Bord sprachen nur das Nötigste, was Jan darin bestärkte, dass sie Mennoniten waren, die sich Schutz in der Herrlichkeit erhofften.
    Jan starrte über die Reling, als könne er so die Fahrt beschleunigen. Es herrschte guter Wind, der Skipper hatte volle Segel gesetzt und wollte die Flut ausnutzen. »Wenn es weiter so geht, können wir zwei Tage früher im Brack sein«, hatte er vorhin gesagt, und als das Boot jetzt über die See glitt, sich in den leichten Wellen hob und senkte, wollte Jan ihm gern glauben.
    Er hatte den ganzen Tag überlegt, ob er das Siegel des Briefes aufbrechen sollte. Er sträubte sich von Stunde zu Stunde mehr, eine Botschaft zu überbringen, die ihn das Leben kosten konnte, deren Inhalt er aber nicht mal kannte. Er konnte gegenüber Krechting behaupten, dass jemand ihm den Brief entrissen und geöffnet habe, dass es ihm jedoch gelungen sei, sich den Brief wieder zurückzuholen, bevor der andere ihn habe lesen können. Immer wieder hatte er das Schreiben in der Hand gehabt, auf das rote Siegel gestarrt. Eine innere Stimme beschwor ihn immer mehr, es aufzubrechen, denn der Brief brannte in seinen Händen. Doch was wäre das

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