Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin
vorwerfen? Selbst wenn der Junge keine Eltern hat, so muss in einer solchen Gemeinschaft doch jemand sein, der sich seiner annimmt. Stattdessen überlassen sie ihn in der Wildnis sich selbst, und nun wollen sie ihn abschlachten, weil es ihnen gut in den Kram passt.«
Jan zuckte bei Hiskes Ausbruch zurück, musste ihr aber tief im Innersten recht geben. Er hatte sich für eine Gruppe eingesetzt, sein Leben riskiert, die sich in ihrer Intoleranz keinen Deut von denen unterschied, die sie bekämpften.
Hiske hatte sich wieder hingesetzt und den Kopf tief in den Händen vergraben. Ihre Finger bohrten sich in die Kopfhaut, wurden weiß. »Wir müssen den Wortsammler vor ihnen finden, müssen ihn irgendwo verstecken. Wenn ich nur wüsste, wo wir ihn suchen sollen!«
Jan war gerührt von der Verletzlichkeit der Hebamme. Er war fast versucht, seine Hand auf ihren Rücken zu legen, doch er würde bei dieser Frau Gefahr laufen, dass sie ihm dann die Augen auskratzte. Es dauerte ohnehin nicht lange, bis Hiske sich wieder in der Gewalt hatte, kurz aus der Küche ging und mit einer Flüssigkeit zurückkam. Sie weckte Garbrand und flößte ihm davon ein.
»Ist das das Gebräu aus den Kräutern?«
Hiske nickte. »Mit etwas Glück ist morgen die Hitze aus seinem Körper«, sagte sie. Dann holte sie etwas Quark, mischte ihn mit Zwiebeln und bestrich ein Leinentuch damit, das sie dem Mönch auf die Brust legte. »Auch das tötet die bösen Säfte, die ihn krankmachen.« Zum Abschluss ließ sie Garbrand wieder die heißen Dämpfe atmen. Der nahm die ganze Prozedur wortlos hin und fiel danach augenblicklich in den tiefen Schlaf zurück. Hiske überprüfte nach einer Weile den Wickel. »Könnt Ihr Euch um Garbrand kümmern? Ich schreibe Euch ein paar Zeilen, damit Adele Euch nicht zum Teufel jagt.«
»Ihr könnt schreiben?« Jan war verwundert, wie gebildet die Hebamme war.
Sie nickte nur kurz. »Warum nicht? Weil ich ein Weib bin? Eine ungebildete Hebamme, ein Kräuterweib, das eher zaubert als heilt?« Sie wirkte verletzt.
»Entschuldigt, so war das nicht gemeint. Aber«, wechselte Jan das Thema, »wo wollt Ihr denn hin?«
»Ich kann mir denken, wo der Wortsammler steckt. Und ich werde ihn vor den Barbaren finden, selbst wenn es mich meinen Kopf kostet!«
Kapitel 13
Garbrand tat nur so, als schliefe er. Nach und nach kam die Erinnerung zurück, wie er in dieser einfachen Küche gelandet war. Ein Krankenlager, das lange nicht an die Bequemlichkeit im Hause Schemering heranreichte. Und doch hatte die schöne junge Frau ihm einen Trank bereitet, der ihn zwar schläfrig machte, aber zugleich das Gefühl bescherte, auf dem Weg der Genesung zu sein. Während Jan und die Hebamme redeten, hatte er immer wieder ein Auge leicht geöffnet und Jans Blicke wahrgenommen, die er der Hebamme zugeworfen hatte. In seinem Bauch fühlte es sich an, als tanze seitdem ein Messer hindurch. Ihm war immer klar gewesen, dass er Jan nicht haben konnte, das versagten ihm schon die Regeln der katholischen Kirche. Doch wie schmerzhaft es sein würde, wenn der Arzt sein Herz für eine Frau öffnete, hatte er nicht geahnt. Jan merkte es sicher selbst noch nicht einmal, doch Garbrand kannte ihn viel zu gut, als dass er die große Zuneigung, die Jan für die Hebamme empfand, nicht bemerkt hätte. In seinem Freund brodelte es. Er wehrte sich mit allen Sinnen gegen die aufkeimenden Gefühle, doch hatte Garbrand ihn noch nie so erlebt. Er spürte am eigenen Körper, wie das Herz des Arztes rascher schlug, wie seine Hände feucht wurden und er der Versuchung kaum widerstehen konnte, die Frau zu berühren. Jan hatte, seit Garbrand ihn kannte, noch nie so auf ein Weib reagiert. Und wie er jetzt am Tisch saß, den Kopf auf die Hände gestützt und den Blick gegen die schmutzige Wand über dem Feuer gerichtet, stand ihm die unverhohlene Sorge um Hiske Aalken ins Gesicht geschrieben.
Garbrand schloss die Augen wieder, überlegte, ob er sich der Krankheit, die seinen Körper auszehrte, nicht einfach hingeben sollte. Er hatte in England in seinem Kloster viele Jahre ein schönes Leben gehabt. Der Mann, der ihm dort nahegestanden hatte, war im Kampf gegen die Anglikaner gefallen. Nie hätte er es für möglich gehalten, danach noch einmal lieben zu können, und schon gar nicht mit einer solchen körperlichen Sehnsucht. Sie hatten im Kloster ihre Zuneigung stets geheim gehalten und nie ausgelebt, dazu waren sie zu gottesfürchtig. Aber sie hatten gemeinsam den
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