Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin
gestopft werden mussten.
Vielleicht war die Mutter auch auf der Flucht hierher verstorben und der Kleine so in seine missliche Lage gekommen. Aber auch dann wären Menschen in der Pflicht gewesen, sich seiner anzunehmen. Es gab keine Antwort, und vermutlich würde Hiske sie auch nie finden. Wer würde sich schon selbst bezichtigen? Und dass der Knabe je so gut reden konnte, um ihr sein Schicksal zu erzählen, daran zweifelte sie. Wenn er sich überhaupt daran erinnerte, was ihm widerfahren war.
Hiske kämpfte sich weiter durch das Moor, hoffte, nachher wieder hinauszufinden. Es war gefährlich, was sie tat. Ein Fehltritt genügte, um sie in den tödlichen Sumpf zu ziehen. Hiske ignorierte das hungrige Summen der Mückenschwärme und das leichte Seufzen des Moores, als trachte es danach, sie in die morastige Tiefe zu ziehen. Mehrmals blieb sie mit dem Schuh stecken, musste den Fuß ganz schnell wieder herausziehen und sich eine feste Stelle suchen, wo sie Halt fand. Immer wieder blieb sie stehen, lauschte, ob sie etwas hörte, das auf ihren Schützling hinwies. Doch er war wie ein Schatten, hieß nicht umsonst so. Der Knabe würde es verstehen, auch im Moor unsichtbar zu sein. Hiske hoffte einfach, dass er sich ihr zu erkennen geben würde, wenn er sie bemerkte. Dass sein Vertrauen ausreichte, zu ihr zu kommen.
Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. »Wortsammler, wo bist du?«
Ein Frosch quakte, ein Vogel flog mit Flügelklatschen vom Moorsee auf. Sonst blieb es still. Die ersten Nebelschwaden waberten über dem Gras, bedeckten Hiskes Schuhe. »Wortsammler!«, rief sie erneut, doch ihre Stimme verlor sich in der endlosen Weite des Moores.
Adele trat in die Küche. Sie stutzte. Neben dem Mönch schlief ein junger Mann, der Beschreibung von Hiske nach musste es sich um den Arzt aus Amsterdam handeln. Die Hebamme musste unbedingtes Vertrauen in sie haben, sonst hätte sie ihr einen solchen Menschen nicht überlassen. Ein Katholik unter den Täufern. Über Adeles Gesicht glitt ein säuerliches Grinsen. Die Hebamme verlangte verdammt viel. Der junge Mann schlief und sah fast so erschöpft aus wie der Kranke. Krechting hatte so sehr auf Rothmann gewartet, doch an seiner Stelle waren nur der Mönch, der sich aber nicht als ein solcher zu erkennen geben durfte, und ein junger Arzt angekommen. Der Tross, mit dem sie gestern angekommen waren, hatte die Zustände im Lager noch unhaltbarer gemacht. Dazu war die Versorgung der Kranken und Badenden nicht mehr gewährleistet, seit sich Dudernixen zu Höherem berufen fühlte. Er sollte lieber seiner Pflicht im Lager nachkommen und die Kranken versorgen, als sich als Lokator aufzuspielen. Es war nicht seine Aufgabe, sich um das Vorankommen des Deich- und Hafenbaus zu kümmern. Das musste Krechting jetzt in die Hand nehmen, wo von Ascheburg tot war. Der aber ließ sich lieber niederschlagen und verkroch sich wie ein angeschossener Hirsch. Adele vermisste seine Kraft und die schwungvollen Reden. Er wirkte seit von Ascheburgs Tod wie ein Schatten seiner selbst. Adele warf einen Blick zu den beiden Männern. Die Welt war durcheinander. Wer hätte in Münster gedacht, dass es einmal so enden würde, wo doch alles so klar erschienen war.
Als sie aus dem Fenster blickte, sah sie mehrere Männer aus dem Lager, die mit Harken und Sensen bewaffnet über den Weg zogen. »Was bedeutet das?«, fragte sie sich. Presste ihre Nase gegen die Scheibe und merkte nicht, dass Jan derweil erwacht war. Sie zuckte zusammen, als er sie von hinten antickte.
»Gott zum Gruße, ich bin Jan Valkensteyn aus Amsterdam. Ich habe hier ein Schreiben von Hiske für Euch.«
Als Adele nicht reagierte, fügte er hinzu: »Sie hat mir dieses Schreiben in die Hand gedrückt, damit Ihr mich nicht gleich zum Teufel jagt.«
Adele schnappte nach Luft. »Da schleppt Ihr mir einen katholischen Pfaffen ins Haus und erwartet, dass ich gelassen bleibe? Was glaubt Ihr, was im Lager los ist, wenn sich das herumspricht?«
Jan gab sich zerknirscht. Ihm war bewusst, was dann geschehen konnte. Adele sah, dass er ein schlechtes Gewissen hatte, weil er seinen Freund, aber auch Adele und Hiske in große Gefahr gebracht hatte. »Ich hatte keine Wahl«, sagte er schließlich. »Garbrand hat sonst keinen, und egal, welcher Glaube uns durchs Leben lenkt, so sind wir doch immer noch Menschen und vor Gott alle gleich, egal, in welche Richtung wir schwimmen.«
Jetzt glitt über Adeles Gesicht doch ein Lächeln. Der Arzt war ihr
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