Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin
Klostergarten bestellt und waren den Kranken ein guter Trost gewesen. Ihre Liebe hatten sie, ohne je ein Wort darüber verloren zu haben, gepflegt, hatten sich gegenseitig gestützt. Es war ein friedliches Leben und voller Zuneigung gewesen.
Es würde hier sicher nicht besser werden. In diesem kahlen Landstrich, in der Fremde. Wenn Jan je erkannte, was er für die Hebamme empfand, dann würde er, Garbrand, leiden wie ein Hund, den sein geschätzter Herr getreten hatte. Einen letzten Blick riskierte er noch. Jan saß, ohne sich bewegt zu haben, noch immer mit starrem Blick auf dem Hocker. Garbrand wusste, dass er verloren hatte.
Hiske hatte sich zum Schutz vor den Mücken ein Tuch um den Kopf geschlungen. Sie trug derbe Schuhe, die sie in der Abstellkammer Adeles gefunden hatte. Die würde sicher nichts dagegen haben, wenn sie sich sie borgte. Im Moor war es besser, wenn man festes Schuhwerk trug. Sie mochte den matschigen Landstrich nicht. Alle Geräusche darin wirkten, als seien sie abgefedert, jeder Laut wurde von dem feuchten Boden gedämmt. Und doch war Hiske sicher, dass der Wortsammler sich hierhergeflüchtet hatte, denn nirgendwo sonst konnte er so gut untertauchen.
Nach einer Weile hatte Hiske den Rand des Moores erreicht. Sie fühlte sich, als wäre sie vom Rest der Welt, vom Meer, von den Menschen an der Burg, völlig abgeschnitten. Es war, als würde man von der eigentümlichen Atmosphäre verschluckt und in eine fremde Welt katapultiert. Hier war das Reich der Feen und Elfen, aber auch böse Gestalten waren den Erzählungen nach im Moor zu Hause. Doch Hiske hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Sie kannte nur ein Ziel: Sie musste den Knaben vor den Leuten Krechtings finden und ihn irgendwo verstecken. Wie sie das bewerkstelligen sollte, wusste Hiske allerdings nicht, doch war ihr das im Augenblick auch egal, denn die Zeit drängte, und das Wichtigste war, den Jungen überhaupt zu finden. Ihre Wut gegen die Menschen, die ihn ins gefährliche Moor getrieben hatten, wuchs mit jedem Schritt, den sie auf dem moorastigen Boden machte. Er war doch noch ein Kind. Kein Mensch kümmerte sich um ihn, jeder fürchtete sich, hielt ihn für eine Missgeburt oder einen Irren. Was für ein Irrtum!
Hiskes Gedanken schweiften zu Jan Valkensteyn ab. Er war ein gut aussehender Mann, und er hatte wider Erwarten ein sehr feinfühliges Gemüt. Etwas, das sie bei einem Mann noch nie erlebt hatte. Seine Sorge um den alten Mönch war fast rührend anzusehen. Sie verstand vieles nicht, was der Arzt tat. Denn wie sie am Abend seiner Ankunft mitbekommen hatte, war er in geheimer Mission hier, und es ging um Rothmann, der vor allem für Krechting wichtig zu sein schien. Dafür hatte Jan sein Leben riskiert, und gleichzeitig schützte er einen Mönch. Das passte nicht zusammen. Die Welt wurde immer verquerer, nichts fügte sich.
Als sie wegen des Wortsammlers so verzweifelt gewesen war, hatte sie sich für einen kurzen Moment gewünscht, Jan möge sie umarmen, ihr die Angst vor der Zukunft nehmen. Wenn sie des Knaben nicht habhaft wurden, würde sie die nächste Schuldige sein. Tydes Worte waren eindeutig gewesen. Dennoch war sie jetzt froh, dass Jan ihr nicht nähergekommen war. Sie wollte keinen Mann nah an sich heranlassen, es war besser, wenn sie allein blieb und den Anfängen wehrte. Es war seltsam genug, dass sie in der Lage war, für den Wortsammler so viel zu empfinden. Sie musste den Jungen schützen, um jeden Preis. Es war, als sei er ihr anvertraut. Er war allein und trudelte durch sein kleines Leben wie eine Schneeflocke, der der Wind diktierte, wo sie sich niederlassen sollte, und bei der die Temperaturen bestimmten, wann sie sich aufzulösen hatte.
Wer mochte ihn geboren haben? Hiske glaubte an eine der alteingesessenen Bürgerinnen aus Dykhusen, doch sie konnte auch nicht ausschließen, dass es eine Mutter aus dem Lager war. In beiden Fällen kannten die Leute die Mutter, eine Schwangerschaft konnte nur schwer geheim gehalten werden, und der Junge musste doch zumindest eine Zeit seines Lebens irgendwo aufgezogen worden sein. Zumindest so lange, bis man es wagte, ihn seinem Schicksal zu überlassen. Nur – warum hatte man ihn nicht gleich nach der Geburt getötet? Das konnte man unauffällig tun. Wie oft war Hiske zu einem toten Säugling gerufen worden, bei dem sie den Verdacht hatte, dass die Mutter ihm ein Tuch auf die Nase gedrückt hatte, bis er nicht mehr atmete, weil schon zu viele Münder
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