Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin
sich die Ohren zu. Man hatte Männer losgeschickt, und sie wollten ihn holen. Er war ganz sicher, dass es einzig um ihn ging. Seit er ein paar ihrer Worte verstand, konnte er sich den Rest zusammenreimen. Sie waren alle böse und wütend auf ihn. Er konnte nicht sagen, warum. Sie riefen, waren zu laut, zu grell. Er mochte es nicht, wenn jemand in dieser Stimmlage sprach. Es ging so unter die Haut, stach in den Ohren und bohrte sich durch die Eingeweide.
Er duckte sich in einen Graben, als ein paar Männer mit erhobenen Lanzen an ihm vorübergingen. Sie sahen sich um, doch es war eher halbherzig, sodass der Knabe sich nicht wirklich bedroht fühlte. Als die Männer ausgeschwärmt waren, hatte es bedrohlicher geklungen. Trotzdem pochte sein Herz, trotzdem hatte er das Gefühl, ein Seil habe sich um seinen Hals gelegt und schnüre sich immer fester zu.
Er wollte doch die Lebenspflückerin vor diesen Menschen schützen, stattdessen musste er sich nun selbst verstecken. Die Männer waren vorbeigelaufen, es war wieder ruhig. Der Knabe krabbelte aus dem Graben heraus, witterte, ob sich noch andere Menschen in der Nähe befanden. Seine Sinne waren geschärft wie die eines Hundes, er hörte mehr als die anderen Menschen, er sah, was andere nicht sahen. Für ihn war eine Ameise kein Geschöpf, das wie zufällig über den Weg huschte, sie hatte eine Aufgabe, wie jedes Lebewesen auf der Welt. Er nahm das Leben um sich herum anders wahr.
Von Weitem hallten erneut Stimmen zu ihm, er hatte nicht viel Zeit, sich ein weiteres Mal zu verstecken. Kaum war er im hohen Gras untergetaucht, als die Männer auch schon auf gleicher Höhe waren, und diese waren aufmerksamer. Sie warfen ihre Blicke auch hinter die Büsche und drückten mit den Enden der Sensen und Speere immer wieder das Gras herunter. Dem Knaben brach der Schweiß aus, als das Metall direkt neben ihm auftraf und beinahe seinen Arm berührte. Er hätte an dieser Stelle des Weges keine Möglichkeit gehabt, zu entkommen. Er hatte keine Wahl, wenn er nicht entdeckt werden wollte. Er musste ins Moor. Es war gefährlich, sich dort aufzuhalten, denn was heute noch sicher war, konnte morgen bereits zur tödlichen Falle werden. Doch wenn sich jemand im Moor auskannte, dann er. Ihn störten die vielen Mücken nicht, die hungrig ihre Rüssel in seine Haut stachen, ihn störte es nicht, wenn die kleinen schwarzen Tiere sich an seinem Blut labten. Sie fielen ab, wenn sie groß genug waren. Wenn es juckte, schnippte er sie mit dem Nagel seines Zeigefingers ins Gras zurück. Er musste nur achtgeben, dass er nicht in ein Moorloch trat, denn das war der sichere Tod. Doch der Knabe besaß den Instinkt eines Wesens, das mit der Natur vertraut war.
Der Junge wandte sich von der Burg ab, sah mit wehmütigem Blick zum Haus der Lebenspflückerin. Dort hatte er seinen Namen erhalten, und doch war es gefährlich. Alles hier war gefährlich. Nun galt es abzutauchen, unsichtbar zu werden. Auch ohne die Lebenspflückerin. Die Männer mit den Stielen in der Hand trachteten nach seinem Leben. Sie würden nicht davor zurückscheuen, ihm das Eisen in die Flanken zu stoßen. Der Knabe wusste nicht, warum sie ihn wollten, warum ihnen sein Blut so wichtig war. Er wachte doch nur über das Meer. Er war ein Sternendeuter, ein Watthüter. Die Lebenspflückerin hatte es verstanden.
Er musste eine Weile laufen, ehe er das Moorgebiet erreichte, aber er war es gewohnt, sich über weite Strecken zu bewegen. Der Boden unter seinen Füßen gab bereits nach, als er den Rand des Moores berührte. Noch gab es einen Pfad, doch er würde sich schon bald in Gestrüpp und hohem Gras verlieren. Dann war er allein. Allein, wie immer in seinem kurzen Leben.
Jan wartete im Burghof auf Hiske. Sie nahm sich viel Zeit für die Schwangere. Ihm war die junge Frau sympathischer, als er es sich eingestehen wollte. Die Hebamme hatte ein Wesen, das sein Herz berührte. Doch er wollte das nicht. Er wollte sich nie wieder für ein Weib erwärmen. Er würde, sobald es Garbrand besserging, rasch verschwinden, bevor ihm die Frau zu nahe kommen konnte. In Emden würde er eine neue Praxis aufmachen, dort war ein Neubeginn möglich. In der Herrlichkeit war es zu öde, zu wenig kultiviert. Er brauchte mehr Leben um sich herum und nicht diesen Dreck, der das Lager an der Burg ausmachte. Krechting musste rasch etwas unternehmen. Die meisten Familien, die mit Jan gereist waren, waren ohne Wagen gekommen und verhandelten fast verzweifelt um eine
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