Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
dauerte eine Weile, ehe seine Augen aus dem Fell auftauchten und er die Marketenderin ansah. Seine Augen waren groß und dunkel, es spiegelte sich eine unterschwellige Furcht darin. Er rührte sich nicht, sondern verharrte in dieser Lauerstellung. Anneke bewegte sich langsam auf ihn zu, so würde er weiter ruhig bleiben. Sie berührte ihn jedoch kein zweites Mal. Die Beinkleider des Knaben waren hochgerutscht, und Anneke konnte seine Fußgelenke betrachten, die tiefe Narben von den Schellen zeigten, die man ihm damals angelegt hatte. In der Marketenderin keimte so etwas wie Mitleid auf. Sie schob es beiseite, konnte dieses Gefühl jetzt nicht zulassen. Sie musste ihre eigene Haut retten und die ihrer Mädchen. Der Fremde würde nicht zögern, sie ins Unglück zu stürzen. Man konnte in Zeiten wie diesen keinerlei Rücksicht nehmen. Anneke hatte sich schon vor langer Zeit für das Ich entschieden, sonst wäre der Knabe vielleicht nicht das, was er nun war. Früher hatte sie geglaubt und auch gehofft, der Wortsammler würde eines Tages von einem fahrenden Gaukler eingefangen und fortan in einem Käfig auf den Märkten ausgestellt werden. Mit seinem Brüllen und seinen unkontrollierten Bewegungen hätte er bestimmt eine Menge Zuschauer angezogen. Wenn Hiske sich seiner nicht angenommen hätte, wäre es bestimmt genau so gekommen, und sie, Anneke, wäre nicht Tag für Tag mit seinem grausamen Schicksal und ihrem Anteil daran konfrontiert worden.
Hiske, immer wieder Hiske, ging es Anneke durch den Kopf. Seit dieses Weib den Boden der Herrlichkeit betreten hatte, schien sich die ganze Welt nur noch um die Hebamme zu drehen. Sie hatte überall ihre Finger drin, und trotz ihrer Vergangenheit brachte man ihr großes Ansehen entgegen. Nicht so formell und offensichtlich wie Hinrich Krechting gegenüber, aber hinter vorgehaltener Hand lobte man das Weib in höchsten Tönen. Hiske Aalken umgab zwar eine gewisse Unnahbarkeit, aber wenn sie zu den Müttern oder Kindern gerufen wurde, legte sie eine solche Herzlichkeit und ein Wissen an den Tag, dass man ihr die Kühle, die sie außerhalb der Krankenkammern zeigte, gern verzieh. Zumal sie ein größeres medizinisches Wissen hatte als das des Baders; es konnte sich fast mit dem eines Arztes messen.
Anneke beneidete Hiske. Das machte ihre Mission leichter. Neid war ein guter Anlass, Böses zu tun.
»Wortsammler?«, fragte sie. Leise, sanft. Nur diesen Knaben nicht erschrecken.
Er hob den Kopf nun ganz, blieb aber in leicht gebückter Haltung. Anneke streckte die Hand aus, sprach zu ihm wie zu einem Hund. »Komm! Komm zu mir rüber!«
Der Wortsammler schüttelte den Kopf.
»Du musst verschwinden. Das sagt die Lebenspflückerin. Sie hat gesagt, ich soll zu dir gehen. Dir sagen, was ich weiß. Und das ist nicht gut für dich und den Mönch, das ist dir schon klar, oder?«
Im Gesicht des Knaben erwachte ein Hauch von Interesse, was sich daran zeigte, dass er sich ein Stück weiter aufrichtete. »Lebenspflückerin?«, hakte er nach.
Anneke nickte. »Du sollst ins Moor gehen, du bist in Gefahr. Wegen des Ermordeten. Wenn du bleibst, wirst du totgemacht. Du bist dabei gewesen!«
Der Wortsammler zog die Stirn in Falten. »Moorwiege? Toterbösermann?«
Anneke verstand zwar nicht, was das Gestammel sollte, aber sie nickte.
»Anneke Steinwerfer Wortsammler«, stieß der Knabe schließlich aus. »Böse Steinwerferin.« Er krempelte sein Hemd hoch und zeigte der Marketenderin ein paar Narben, die vermutlich von ihren Attacken gegen ihn herrührten. »Böses Feuerweib haut.«
»Wortsammler jetzt Annekes Freund«, versuchte sie es wieder. Es fiel ihr schwer zu lächeln; auch wenn sie einst viel mit diesem Kind verbunden hatte, so war er ihr nun doch fremd. »Die Lebenspflückerin sagt, du musst in die Moorwiege! Und du darfst nicht zurückkommen, dann kommt noch ein böser Mann wie der, der im Siel lag. Er wird der Lebenspflückerin den Hals abschneiden. Und dir und Garbrand auch. Du darfst erst zurückkommen, wenn sie das sagt!«
»Wortsammler Hilfemann von Lebenspflückerin. Nie gehen!«
Anneke legte ihren Zeigefinger an die Lippen. Als sie den Jungen so entschlossen, so voller Sorge und Liebe vor sich sah, überkam sie ein schlechtes Gewissen, und sie begriff, wie viel Wärme und Zuneigung die Hebamme dem Knaben – aber er auch ihr – entgegenbrachte. Ich kann das nicht, schoss es ihr durch den Kopf. Ich werde mich nicht zu solchen Intrigen missbrauchen lassen. Auch nicht, wenn
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