Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
Schwachen und Kleinen in den sicheren Tod. Es war die Geißel der Menschen aus der Marsch, und sie wurden von der Krankheit jeden Sommer aufs Neue heimgesucht. Was nur konnte sie tun?
Hiske wickelte die Beine des Kindes erneut in die Tücher. Sie würde alles versuchen, um das Fieber zu besiegen. Jan war nicht mehr wichtig, hier galt es, ein Leben zu retten. Was waren dagegen ihre Gefühle, die nicht erwidert wurden? Sie hatte bereits drei Jahre mit Hoffen und Warten vergeudet, jetzt war Schluss. Jan brauchte ihr nicht mehr unter die Augen zu kommen.
Anneke schlich sich zum Haus Hiskes. Sie hatte sich gestern nicht mehr losgewagt, zu sehr war ihr das Gespräch mit dem Fremden unter die Haut gegangen. Die Glieder der Kette hatten sich in ihren Handballen gebrannt, eine kleine Rundung neben der anderen zeichnete sich dort ab. Die ganze Nacht waren wilde Gedanken durch ihren Kopf getanzt, hatten verschiedene Reigen gebildet, Kreationen vorgeschlagen, und doch war danach alles wieder in sich zusammengefallen. Es gab kein Bild, das Bestand hatte, keine Idee, die zuträglich war. Anneke wollte Hiske nicht quälen, und sie wollte schon gar nicht diesem Fremden zuarbeiten, damit er sein teuflisches Werk vollenden konnte. Am Ende hatte sie einen Kompromiss geschlossen, von dem sie hoffte, dass er keine zu großen Schäden anrichten würde. Mit etwas Glück war sie den Mann danach los. Anneke wagte allerdings nicht, darauf zu hoffen, denn er wusste zu viel von ihr, als dass er es nicht nutzen würde. Ihr blieb keine andere Wahl, als sich auf den Weg zur Hebamme zu machen. Noch kämpfte die in der Neustadt um das Leben des Kindes, und Anneke konnte tun, was sie tun musste. Ihr größtes Problem war Garbrand, der wie ein Geier über seinen Schützling wachte und ihr die Augen auskratzen würde, wenn sie ihm zu nahe trat oder ihm gar ein Haar krümmen wollte. Das jedoch war gar nicht ihre Absicht. Sie hatte sich überlegt, den Wortsammler ins Moor zu schicken. Dort würde er zwar unauffindbar, aber sicher sein. Denn wenn sich jemand in den Tiefen des Sumpflandes auskannte, dann war es der Knabe, dessen Wiege dort gestanden hatte. Hiske wäre allerdings außer sich vor Angst, denn der Wortsammler war ihre verwundbarste Stelle neben Jan.
Vor Hiskes Küchenfenster waren die Vorhänge zugezogen, die kleine Kate wirkte verschlafen und nicht so, als sei jemand zu Hause. Der Schornstein rauchte nicht, kein Duft nach Haferbrei oder Suppe umzog das Haus. Nichts wies darauf hin, dass jemand ein Frühstück zubereitete. Anneke drücke die Klinke herunter. Es war nicht abgeschlossen. Furcht vor Einbrechern kannte man in der Herrlichkeit Gödens kaum, aber wenn sich immer mehr Schiffe mit Fremden in den Hafen wagten, würde sich das sicher bald ändern.
Anneke trat vorsichtig in den Flur, der sauber gefegt und ordentlich aussah. Sie schlich in die Küche, sah den Wortsammler allein am Tisch sitzen, den Kopf in die Hände gestützt. Er döste vor sich hin, nahm ihr Erscheinen nicht zur Kenntnis. Sie versuchte Garbrand auszumachen, doch hörte sie nur sein Schnarchen. Nachdem sich ihre Augen an die Dämmerung gewöhnt hatten, sah sie ihn in der Ecke vor dem Ofen liegen, eine dünne Decke über die Beine gebreitet, als Kissen diente ein Holzscheit, über dem ein Tuch lag. Er ist also mal wieder betrunken und schläft seinen Papistenrausch aus, dachte Anneke. Das passt gut, dann habe ich ein leichtes Spiel. Ich muss nur das Vertrauen des Knaben erlangen, sonst dreht er gleich durch. Sie wusste, dass sie die frühere Vertrautheit verspielt hatte. Leicht würde ihr Unterfangen nicht sein.
Als Anneke den Wortsammler an der Schulter berührte, sprang er sofort auf. Sie hatte nichts anderes erwartet, legte den Zeigefinger an die Lippen und bedeutete dem Knaben so, sich still zu verhalten. Mit dem Kopf nickte sie in Richtung Garbrand, der im Schlaf immer wieder grunzte. Der Wortsammler rannte ein paarmal im Zimmer auf und ab, schlug ein wenig mit dem Kopf, ehe er sich beruhigte. Danach nahm er die schwarze Katze auf den Schoß und strich ihr das Fell glatt. Er bohrte seine Nase hinein und schien so verschwunden.
Tiere liebt er also immer noch, dachte Anneke. Das hat er stets getan, früher hatte sie sogar geglaubt, er verstehe ihre Sprache. Der Wortsammler war und blieb seltsam. Da er jetzt mit dem Tier beschäftigt war, blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten, denn er würde ihr ohnehin nicht zuhören, wenn sie auf ihn einsprach. Es
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