Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
wie sehr sie litten. Auch jetzt hörte Hiske das Schlagen des Ambosses, das die weinenden Töne der Mutter wie Hintergrundmusik unterstrich.
Hiske schickte die Frau hinaus, ihre Verzweiflung beunruhigte das Kind. »Bringt mir noch etwas lauwarmes Wasser!« Die Hebamme wollte die Wickel erneuern, die sich bereits wieder aufgeheizt hatten. Das Weib erhob sich und schlich aus der Kammer. Sie wirkte, als würde sie jeden Augenblick unter der Last des Kummers zusammenbrechen.
Hiske strich dem Jungen übers Haar. Wie gern hätte sie auch selbst ein Kind gehabt, wie gern hätte sie eine Familie versorgt. Der einzige Mann, der dafür je infrage gekommen war, hieß Jan Valkensteyn, und dessen Herz war an eine holländische Frau vergeben. Eine Lieke, die nun von der Marketenderin Anneke abgelöst wurde. Hiske hätte nicht geglaubt, dass diese Erkenntnis sie so treffen würde. Es war, als trockne ihr Herz seit gestern Abend ein und würde bald zu Staub zerfallen. Hiske kämpfte mit Übelkeit.
Es war stickig und heiß in der Kammer. Das würde sich im Laufe des Tages noch verstärken, wenn erst die Sonne das Land mit einer Heftigkeit umarmte, die kaum auszuhalten war. Hiske wagte aber nicht, ein Fenster zu öffnen, aus Angst, der Kleine könnte Zug bekommen und sich womöglich eine zusätzliche Erkältung einfangen, die er dann mit Sicherheit nicht mehr überleben würde. Hiske stand lediglich einen Moment von der Bettstatt auf, stellte sich ans Fenster und sah dem morgendlichen Treiben in der Straße zu. Jeden Tag sah es ein bisschen anders aus, denn die Menschen arbeiteten hart, damit die Neustadt fertig wurde. Sie konzentrieren sich auf das Wesentliche, dachte Hiske. Sie fokussieren all ihren Willen darauf, gemeinsam ihr Ziel zu erreichen. Mit dem Bau des neuen Handelsfleckens würden sie die Unabhängigkeit erreichen, die sie für eine ganze Weile aufgegeben hatten. Ihres Glaubens wegen war für viele von ihnen eine Flucht aus ihrer Heimat notwendig gewesen, aber auch wenn das Leben in der Herrlichkeit fremd war, hatten sie ihre Ziele doch stets im Blick behalten und so die große Unbill ertragen können. Das Wort »aufgeben« gab es nicht in ihrem Wortschatz.
»Ich bin Hebamme und ein Teil von ihnen, auch wenn ich den Glauben der Holländer und Münsteraner nicht teile. Aber ich habe meinen Platz hier. Ich bin Hebamme und stehe unter dem besonderen Schutz Hinrich Krechtings. Er hält große Stücke auf mich, meine Art zu heilen und die Kinder auf die Welt zu holen. Ich bin Hebamme und Heilkundige, es ist das Einzige, was ich gelernt habe. Das Einzige, was ich richtig gut beherrsche, also werde ich genau darauf mein Leben ausrichten und mich nicht mehr von anderen Dingen ablenken lassen. Auch nicht von Menschen wie Jan Valkensteyn, der meine Liebe nicht verdient hat. Ich werde herausfinden, woher das Fieber kommt, und werde es bekämpfen, bis kein Kind und kein alter Mensch mehr daran stirbt.« Hiske wandte sich wieder dem Jungen zu, der nun in einen unruhigen Schlaf gefallen war.
Sie nahm die Schale mit dem Wasser aus der Hand der Mutter entgegen, die eben wieder eingetreten war und angewidert die Nase rümpfte angesichts des Gestanks im Krankenzimmer. »Geht ruhig hinaus«, schlug Hiske vor. »Ihr könnt hier ohnehin nichts tun, es ist besser, wenn Euer Sohn Ruhe hat.«
Die Frau des Schmiedes zog sich sofort zurück, sie schien dankbar über das Angebot zu sein.
Hiske hob das Leinen an, unter dem das Kind lag, wickelte die Tücher von den Unterschenkeln. Der Atem des Jungen ging viel zu schnell, noch hatten alle Bemühungen keinen Erfolg gezeigt. Es war eher, als steigere sich die Hitze noch. Hiske hatte vor allem die kleinen Kinder dabei schon krampfen gesehen. Was nur löste diese grausame Krankheit aus? Sie wusch das Kind, betrachtete die vielen Mückenstiche, die die Haut rot erblühen ließen. Trotz der Apathie hatte der Knabe etliche Stiche aufgekratzt. Da das Tageslicht nicht ausreichte, zog Hiske die Unschlittkerze näher an die Haut heran, damit sie die Stiche besser erkennen konnte. Ein paar der Pusteln eiterten, andere hatten schon Krusten gebildet. Ob das Fieber etwas mit den Wunden zu tun hatte, die sich auf der Haut entzündeten? Hiske nahm eine Salbe und bestrich sie damit. Vermutlich war aber auch das vergebene Liebesmüh. Es musste der Sommer mit seinem Nebel, seinen Dämpfen sein. Die Gifte, die das Fieber verursachten, kamen aus dem Moor, verteilten sich unter ihnen und rissen die Kranken,
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