Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
nicht gut, sie hatte in der vergangenen Nacht kaum ein Auge zugetan. Ständig wurde sie vom Fieber geschüttelt, sah krank und schwach aus. Es wäre wohl besser gewesen, sie wäre gleich gestorben. Anneke wäre schon ein Grund eingefallen, den sie hätte vorschieben können. Junge Mädchen wie Lina konnten sich schon mal selbst töten, keiner hätte das hinterfragt. Wenn Lina sofort gestorben wäre, hätte ihre Zukunft nicht in den Sternen gestanden. Sicher wäre es auch möglich gewesen, es so zu drehen, als wäre Lina einfach schwanger geworden und wolle den Vater nicht preisgeben.
Anneke war wegen Linas Befinden sehr bestürzt. Sie fragte alle Dinge zweimal und herrschte die Mädchen ständig an. Grieta glaubte, dass dies auch daran lag, dass dieser Arzt nicht gekommen war, obwohl sie ihn zu sich eingeladen hatte. »Wenn er mich besucht, dann gibt es euch nicht. Ihr seid einfach verschwunden, ich will ihn für mich allein. Von diesem Treffen hängt sehr viel ab. Letztlich auch eure Zukunft.« Anneke wollte ihn verführen. Danach musste er sie ehelichen.
Nur verstand Grieta nicht, warum sie es gerade auf diesen bartlosen Mann abgesehen hatte. Ihr war er zu drahtig, seine Augen zu warm. Jan Valkensteyn war langweilig. Sie selbst hätte einen Mann wie Krechting haben wollen. Groß, kräftig, ein bisschen untersetzt. Und machtgierig. Der wusste, was er wollte.
Grieta machte sich weiter an die Arbeit; wenn Anneke gleich zurückkam, wollte sie mit dem Saubermachen fertig sein. Es war außerdem eine gute Möglichkeit, sich zu beschäftigen. Lina wimmerte in ihrer Bettstatt und ging Grieta auf die Nerven. Männer durfte sie auch keine mehr empfangen, sodass ihnen schon bald das Geld ausgehen würde. Im Laden war kaum etwas los, weil kein Schiff angelegt hatte. Das Unwetter führte außerdem dazu, dass die Leute aus Dykhusen fernblieben, denn kaum einer machte sich auf den Weg über die schlammigen Wege, wenn er es vermeiden konnte.
Grieta reinigte den Küchentisch mit Sand, fegte den Raum anschließend aus und wischte die Möbel mit einem feuchten Tuch ab. Anneke bestand auf höchste Sauberkeit im Haus und überprüfte stets jede Ecke. Es war schon vorgekommen, dass sie Grieta heftig geschlagen hatte, weil in der Küche Essensreste lagen. »Wir wollen keine Ratten und Mäuse im Haus. Und die kommen, meine Liebe, wenn der Unrat offen herumliegt. Krechting hat für Abfallkörbe gesorgt, also bringe ihn um Himmels willen dorthin.«
Grieta hasste es, gemaßregelt zu werden, aber sie musste sich fügen. Ohne Anneke hätte sie in der Neustadt keine Bleibe, und was das hieß, wusste sie aus Erfahrung sehr wohl. Allein sein, keine Wärme. Hass in den Augen der anderen und der kalte Boden im Findelhaus, weil die Mutter fand, das Kind sei in dieser Welt überflüssig. Ein bisschen Glück war über sie hereingebrochen, als sie zu der alten Frau ziehen und deren Haushalt machen durfte. Doch die war eines Tages weg gewesen, und Grieta musste erneut ihren Weg finden. Als sie schließlich auf Anneke gestoßen war, hatte sie zwar kein sorgloses Leben, aber durchaus ein Lager für die Nacht und genug zu essen. Dass sie sich an Männer verkaufen musste, war der Preis dafür, aber er war nicht höher als der des Hungers und des Frierens.
Grieta nahm einen Hocker, stellte sich darauf und griff nach den irdenen Krügen, die Anneke auf dem Schrank aufgereiht hatte. Die waren seit mehr als einer Woche nicht gereinigt worden, und bestimmt würde Anneke auch hier kontrollieren, ob Grieta alles zu ihrer Zufriedenheit erledigt hatte. Sie hob den ersten Krug an, wischte den Boden darunter sauber und wollte ihn eben zurückstellen, als es darin klimperte. Leise nur, so als kullere ein winziger Stein darin. Grieta hob den Deckel und starrte in das Gefäß. Am Boden strahlte ihr etwas Glänzendes entgegen. So hell es auch anmutete, schien es gleichzeitig in allen Farben zu schillern. Was zum Teufel war das? Sie drehte den Krug und schüttete den Stein in ihre Hand. Dann hielt sie ihn gegen das Licht der Morgensonne, die sich durchs Fenster drängte.
»Was ist denn das für ein Ding?« Grieta kletterte vom Hocker und umschloss dabei den Stein mit der Hand, als fürchte sie, ihn aus Versehen fallen zu lassen.
»Das ist ein Kristall, kein einfacher Stein.« Er war fein gearbeitet, die Oberfläche völlig glatt geschliffen. Eigenartig war lediglich die Form. »Sieht aus wie eine Eisträne«, sagte Grieta. Während sie das Wort aussprach, glaubte
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