Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
sie zu spüren, wie der Kristall kälter wurde und sich in ihre Haut wie ein Splitter aus Eis eingrub. »Er ist so klein, und doch hat er eine Kraft und Ausstrahlung. Fast unheimlich. Es ist eine Mischung aus Liebe, Leid und …«, Grieta hielt inne, hielt die Luft an und flüsterte: »… und Blut. An diesem Stein klebt Blut!« Sie musste sich setzen. »Ich denke doch sonst nicht so komische Sachen. Ich doch nicht.« Sie hielt den Kristall noch immer fest umklammert. Grieta öffnete die Handfläche und starrte auf die kleine Träne. »Anneke weiß nichts davon. Der Kristall ist bestimmt wertvoll, den hätte sie niemals in dem Krug deponiert.« Grieta ließ den Stein in der Schürzentasche verschwinden. »Den hat einer der Kunden dort hineingelegt. Oder Lina.« Grieta dachte nach. Die Krüge hatte sie in der vergangenen Woche zum letzten Mal in der Hand gehabt, und da waren sie leer gewesen. Wer hatte sich danach, außer ihr und Lina, in der Küche aufgehalten? Der Bader, schoss es ihr durch den Kopf. Dudernixen war dreimal hier gewesen, und er trank mit Anneke hinterher immer noch einen Becher Dünnbier und ließ sich das Haupt salben. Er bestand auf ein paar Privilegien, weil er den Männern vom Schiff immer wieder einen Wink gab, wohin sie sich mit ihrer Lust verirren könnten. Dudernixen verlangte dafür keine Münzen, aber er bestand auf einer Sonderbehandlung, die sonst keinem anderen Kunden zustand. Manchmal dachte Grieta, er tue beinahe so, als seien sie sein Harem.
Die Träne war so winzig, sie hätte in ein Medaillon gepasst. Und war nicht das Medaillon Friso van Heeks verschwunden? Dazu kursierte das Gerücht, Dudernixen wäre dem Toten in der Nacht noch einmal begegnet. Die Neustadt war noch klein, es blieb nichts geheim. Doch auch Lina konnte sich die Träne verschafft haben. Sie war van Heeks Hure gewesen. Er hatte sie benutzt und ihr sehr wehgetan. Danach war Lina völlig verändert, und das lag nicht nur daran, dass sie festgestellt hatte, schwanger zu sein. Sie war nach seinem Besuch davon überzeugt gewesen, dem Teufel persönlich begegnet zu sein. Dem Teufel Friso van Heek aus Holland. Doch war sie schon wieder kräftig genug, auf einen Stuhl zu klettern und den Stein in einen der Krüge zu legen?
Grieta fingerte die Träne aus der Schürzentasche. Je länger sie den Kristall ansah, desto sicherer war sie, ein Stück des Geheimnisses um den Tod Friso van Heeks in der Hand zu halten.
»Grieta!«, hörte sie Linas Stimme. Sie klang dünn, fast so, als koste es sie große Kraft.
Grieta stürzte in die Kammer. Wieder lag Lina in einer großen Blutlache, die kleine Nase stach spitz aus ihrem Gesicht, um den Mund hatte sich ein weißes Dreieck gebildet. Grieta glaubte, dem Tod direkt in seine Fratze zu sehen.
Krechting war früh aufgestanden. Er wollte zur Falderndelft. Dort befand sich die Werft. Er hatte sich sagen lassen, dass am Roten Siel, das sich an die Falderndelft anschloss, Land zu vergeben sei. Er plante, es sich anzusehen, denn vielleicht wäre das ein guter Ort für den Bau des Gödenser Hauses. Zunächst musste er die Ratsdelft überqueren und sich dann östlich halten. Hinrich schritt kräftig aus. Er genoss es, hier als Staatsmann wahrgenommen zu werden. Er glaubte, eine ganz andere Akzeptanz zu verspüren als bei der Häuptlingswitwe, doch es mochte auch daran liegen, dass in Emden alles viel größer, viel urbaner wirkte als in dem kleinen Flecken am Schwarzen Brack. Emden erinnerte ihn an Münster, an die großen Visionen, an das, was hätte sein können, wenn man sie gelassen hätte. Hier umgaben ihn Menschen wie der Superintendent a Lasco, der ihm zwar alle Träume genommen hatte, aber dennoch ein interessanter und vor allem gewandter Gesprächspartner war. Es machte Krechting große Freude, mit ihm den Glauben und dessen Grundsätze zu erörtern. Diese Diskussionen schliefen in der Herrlichkeit immer mehr ein, nichts war von dem Feuer zu spüren, das die Täufer einmal getrieben hatte.
Krechting lebte in Emden auf, fühlte sich wieder als Kämpfer, als Denker und Vorreiter für neue Ideen. Die Unterhaltung mit dem Emder Stadtarzt hatte ihn auf die Idee gebracht, seine Zelte in der Herrlichkeit Gödens abzubrechen und ganz nach Emden überzusiedeln. Alles war besser für ihn als das, was ihn in der Neustadt erwartete, auch wenn er Elske erst kurz vor seiner Abreise etwas anderes versprochen hatte. Erst jetzt, wo er die Armut, den Schmutz und die Einöde nicht mehr direkt vor
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