Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
Augen hatte, wurde ihm klar, wie sehr er das wirkliche Leben vermisst hatte. Allerdings war ihm auch bewusst geworden, was er alles von seinen Glaubensbrüdern und -schwestern verlangte, und dennoch: Er konnte, nach reiflicher Überlegung, seine Anordnungen nicht zurücknehmen. In der Herrlichkeit sollte die Askese, ganz wie von den Reformern gewünscht, herrschen. Er selbst hatte es angeschoben und war nun verantwortlich für die Umsetzung. So sehr er das bunte Leben der Hafenstadt Emden genoss, es kam für die Neustadt nicht infrage, wobei er sich tief im Innersten bewusst war, dass er es vermutlich nicht vollends würde verhindern können. Menschen brauchten und suchten Kurzweil, ob es ihm gefiel oder nicht. Aber die Neustadt war eben nur ein Flecken, keine so große Stadt wie Emden.
Krechting hatte inzwischen die Falderndelft erreicht, überquerte die Brücke und befand sich schließlich am Roten Siel. Er erfreute sich am leisen Plätschern des Wassers, betrachtete die Schiffe, die an der Kaimauer ankerten. Von dort drangen Stimmen, mal laut, mal freundlich. Eine Schwade Essensgeruch umwaberte ihn, einer der Schiffer stand am Kai und spuckte in die Delft. Immer wieder blieb Krechting stehen, ließ alles auf sich wirken und saugte es auf, als müsse er sehr lange davon zehren.
Er lief ein Stück am Wasser entlang, das sich rechter Hand befand. Hier würde er das Emder Stadthaus Hebrichs errichten lassen. Das Gödenser Haus am Roten Siel. Diese Stelle hier erschien ihm besonders geeignet. Die Witwe würde freien Blick aufs Wasser haben und war doch binnen kürzester Zeit in der Stadt, wo das Leben pulsierte. Hinrich war beflügelt, fühlte sich in seinem Element. Es war ein guter Gedanke, nach Emden überzusiedeln. Er konnte den Bau dieses Hauses vorantreiben, sich von hier aus um die Belange Hebrichs kümmern und wieder zu großem Ruhm kommen. Er wollte nicht in der Herrlichkeit versauern, wo er Tag für Tag an seine Niederlage erinnert wurde, an das Scheitern seines Plans, das Neue Jerusalem zu errichten. Hier galt er wieder etwas, musste nicht mit einem alten Mönch ein Armenwesen führen, das ihm zuwider war. Er musste sich nicht um Tote kümmern, die warum auch immer im Siel trieben. Er war Jurist, war Kanzler Jan van Leydens in Münster gewesen, er musste, er konnte sich nicht länger wie ein Schwein im Schmutz suhlen und immer nur aufpassen, dass die Herde nicht in ihrem eigenen Unrat versank. Er war zu Höherem berufen, und auch hier gab es Gleichgesinnte, gute Reformer und Täufer. Wie viel mehr Möglichkeiten hatte er in Emden als in der Herrlichkeit Gödens, die doch nur ein Schlammloch war und sich nun gerade mit diesem Marschenfieber herumplagte. Was hatte Jacobus gestern gesagt? Emden drohe die Pest? Die Pest drohte auch da, wo er herkam, vielleicht noch viel schlimmer.
Krechting sog die Luft ein, die von der Ems herüberwehte, und zum ersten Mal seit langer Zeit überzog ein breites Lächeln sein Gesicht.
Amsterdam 1532
Das Mädchen lebt nun in einer Kate am Rand der Stadt. Amilia ist gut zu ihr, gibt ihr genug zu essen und zu trinken, sogar die Bettstatt ist weich, das Strohkissen ist frisch gestopft, wird stets aufgeschüttelt. Das Mädchen muss im Haushalt helfen, die Bodendielen schrubben und das Essen mit zubereiten. Aber sie bekommt keine Schläge. Oft ist Amilia fort und taucht stundenlang nicht wieder auf. Manchmal bleibt sie die ganze Nacht fort, hat tiefe Ringe unter den Augen. Sie sagt nie, wo sie war.
Das Mädchen wagt immer öfter, ein Wort zu sprechen. Dann freut sich Amilia. »Es ist so schön, dass ich dich gefunden habe«, sagt sie oft. Sie streicht dem Mädchen übers Haar. »Ich bin auch allein, weißt du? Frauen wie ich bleiben das auch, Männer passen nicht an unsere Seite. Ich aber kann Hilfe brauchen, da kommst du mir recht.«
Amilia hat einen kleinen Garten, in dem sie Gemüse und Kräuter zieht. Sie zeigt dem Mädchen, wie man alles hegt und pflegt, damit sie es allein tun kann. Das Mädchen geht gern in den Garten, sie liebt es, jeden Tag zu sehen, wie alles wächst und wie sie das steuern kann. Hier eine Blüte zupfen, da einen Trieb stutzen. Als sie die ersten Kräuter erntet, ist es, als sei ihr seit sehr langer Zeit einmal wieder das Stück Geborgenheit begegnet, von dem sie dachte, es gäbe es für sie nicht mehr.
Manchmal durchstreifen Amilia und sie auch die Wiesen und sammeln ein, was die Frau für wichtig hält. Beim Sammeln murmelt sie Worte, bedankt sich
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