Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
Sturzbächen über die Haut. Es war unerträglich.
»Wortsammler!«, rief er, doch seine Stimme schien von der Ewigkeit des Moores verschluckt zu werden. »Junge, wie weit hast du dich in diese Wildnis vorgewagt?«, flüsterte Jan.
Er zog das Messer aus der Tasche und ritzte in jede fünfte Birke einen Pfeil, damit er zurückfand. Die Pfade im Moor waren sich alle ähnlich, er konnte sonst nicht sicherstellen, später auf dem richtigen Weg zu sein. Es war ihm von jeher ein Rätsel, wie der Knabe sich allein mit seinem Instinkt zurechtfinden konnte. Solange es irgendwie ging, würde er das Kind suchen. Bis weit in die Nacht hinein.
Immer wieder stellte sich Jan dieselben Fragen. Warum war der Knabe fortgelaufen? Wer schlich sich um Hiskes Kate herum, und wohin war das Medaillon verschwunden? Die Hebamme hatte recht. Das Schmuckstück würde sie zum Mörder führen. Hiske glaubte, es bei Magda gesehen zu haben. Wie weit hing der Bader in allem drin? Dudernixen war ein undurchsichtiger Mann, der die Falschheit des Charakters zu seinem Lebensinhalt gemacht hatte und widersinnigerweise sehr gut damit durchs Leben kam. Das verstand, wer immer es wollte. Für Jan war es ein Rätsel, das er wohl nie ergründen würde.
Der Weg wurde schlechter, das Laufen von Minute zu Minute beschwerlicher. Während er sich durch den Morast kämpfte, schob sich ständig Hiskes Gesicht vor sein inneres Auge. Ihr trauriger, fast gebrochener Blick, weil sie sich ihm zu erkennen geben musste, um zu erklären, warum sie so böse geworden war. Und er, der große Arzt, der feige geschwiegen hatte.
Er liebte Hiske. Jan schrak zusammen, zum ersten Mal wagte er, diesen Gedanken zuzulassen. Jetzt, wo er gerade dabei war, die Hebamme zu verlieren, war es ihm klar wie nie zuvor. Er liebte sie mehr als Lieke. Viel mehr! Das Erste, was er nach seiner Rückkehr tun würde, war, Anneke klar zu sagen, dass er keine Gefühle für sie hegte. Auch, damit sie aufhörte, sich zwischen ihn und die Hebamme zu stellen.
Jan ritzte einen weiteren Pfeil ins Holz, schlug sich tiefer ins Moor. Die Bäume standen nun dichter, es gab keinen Pfad mehr, an dem er sich orientieren konnte. Jeden Tritt musste er absichern, er kam nur langsam voran. Schließlich suchte er sich einen Platz zum Rasten und sank mit dem Rücken gegen einen Baum, der ihm etwas Halt bot. Er hätte zusätzlich eine Laterne mitnehmen sollen. Die Flamme der Fackel brannte mit letzter Kraft, sie würde ihm nur noch kurz ihr bizarres Licht spenden. Von dem Augenblick an wurde es gefährlich, und er musste warten, bis die Nacht vorüber war. Jan schloss die Augen, weil er eine Pause dringend nötig hatte. Doch eines war sicher: Er würde in dieser Nacht nicht schlafen.
Klaas lehnte sich in sein Kissen zurück. Er war sehr zufrieden. Es machte ihm große Freude, die Hebamme, so oft er konnte, zu verfolgen. Er gab acht, dass sie es merkte, denn dann stand ihr die Angst ins Gesicht geschrieben. Das mochte er. Er kam leider nicht nah genug heran, um auch ihren Duft in die Nase zu bekommen, denn was er an seinem Beruf als Scharfrichter geliebt hatte, war der Geruch der Todesangst, der den Schuldigen aus den Poren kroch. Es war besser als jedes Parfüm, besser als jeder Alkoholrausch. Das fehlte ihm, aber Hiske Aalken würde ihn später dafür entschädigen. Sein Weg war von Leichen gepflastert, er kannte alle Möglichkeiten, jemanden zu Tode kommen zu lassen. Nicht ein einziges Mal hatte es ihm leidgetan, nicht einmal bei den jungen Weibern, über die er hin und wieder vor ihrem Tod noch gestiegen war und ihre Weiblichkeit genossen hatte. Für einen Mann, den selbst die Huren ablehnten, war es die einzige Möglichkeit gewesen, zu seinem Recht zu kommen. Nur von den Toverschen hatte er sein Gemächt gelassen. So sehr es ihn als alleinstehenden Mann nach weicher Haut dürstete, so sehr hatten ihn diese Zauberfrauen stets abgeschreckt. Man sah ja, was dabei herauskam, wenn man Kontakt zu ihnen hatte. Klaas strich über sein Holzbein. Wer wusste schon, was noch Schlimmeres passiert wäre, wenn er eine von ihnen angerührt hätte.
Nun würde es nicht mehr lange dauern, er näherte sich seinem Ziel. Alles war für sie vorbereitet. Der Kerker mit allen Gerätschaften, ihr Lager auf dem kalten Steinboden, seine Hände, die sich stark und beweglich zeigten wie lange nicht mehr.
Welche Wonnen warteten auf Klaas Krommenga, wenn er dieses Weib erst in seiner Gewalt hatte.
Grieta räumte auf. Lina ging es noch immer
Weitere Kostenlose Bücher