Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
halten.
Nun war es nicht mehr weit bis zu ihrer kleinen roten Kate. Bald war sie in Sicherheit vor diesem Menschen, der seit Tagen nichts Besseres zu tun hatte, als sie zu erschrecken. Warum tat er so etwas? Sie mühte sich ab, die Kinder in der Herrlichkeit zu retten, sie kämpfte nicht gegen die Riten und Verordnungen an. Verhielt sich still, fast angepasst. Wer sollte ihr Böses wollen? Hiske fiel niemand ein, dem sie es zutraute. Niemand von den Menschen, mit denen sie sich umgab.
In Jever, da hatte es anders ausgesehen. Da gab es genug Bürger, die ihr die Pest oder den Aussatz an den Hals gewünscht hätten. Die es ihr neideten, dass sie eine eigene Kammer innerhalb der Wallanlagen bewohnte, die sie mit niemandem teilen musste. Dass sie nicht in der Petersilienstraße hausen musste.
Aber sie lebte nicht mehr in Jever, seit drei Jahren nicht. Vor drei langen Jahren hatte sie das Leben dort aufgegeben, war seitdem in Sicherheit. All ihre Peiniger waren dort geblieben, quälten nun andere Seelen, drohten ihnen mit dem Fegefeuer, dem Satan und entlockten ihnen unter Höllenqualen die absurdesten Geständnisse. Das alles hatte sie hinter sich gelassen.
Hiske schritt kräftig aus, während diese Gedanken in ähnlicher Geschwindigkeit durch ihren Kopf stürmten, wie sie ihre Füße voreinander setzte. »Ich habe alles hinter mir gelassen. Kein Mensch verfolgt mich mit böser Absicht. Niemand von hier …« Sie blieb so abrupt stehen, dass sie einen Ausfallschritt nach vorn machen musste, um den Schwung abzufedern. »Niemand von hier«, flüsterte sie, »niemand von hier, aber …«
Mit einem Mal fügte sich Hiskes Erinnerung mit der Gegenwart zusammen. Mit dem, was ihr vor ein paar Tagen widerfahren war, was sie verdrängt hatte, weil die Sorgen um Lina und den Wortsammler ihr Denken und Handeln bestimmt hatten. Mit jeder Erinnerung, die sie zuließ, schnürte sich ihr Hals ein Stück zu, mit jedem Gedanken fühlte sie kaltes Metall an ihrer Haut, Schmerzen, die sich anfühlten, als halte jemand eine Fackel an ihre Wunden.
Sie war wieder im Kerker von Jever, sah in ein Augenpaar, das hasserfüllter nicht sein konnte. Kluge, sehr blaue Augen, bei denen man in einen Sommerhimmel zu sehen glaubte, die aber bei einem zweiten Blick eine Seele freigaben, in der die Flamme des ewigen Hasses brannte. Ein Hass, der sich gegen die Menschheit und das Leben richtete, nicht gegen die Person, die ihr gegenüberstand. Ein Hass, der deshalb so abgrundtief war, weil der Mensch schon alles verloren hatte, was es im Leben zu verlieren galt. Ein Mensch, dem vermutlich nie eine Hand übers Haar gestrichen hatte, um ihm beizubringen, dass das Leben Überraschungen bereithielt und immer ein Ausweg da war. All das war in diesen Augen hinter der Maske zu lesen gewesen. So kurz vor dem Tod, wenn das Leben nur noch dünn war wie ein Seidenfaden kurz vor dem Reißen, waren die Sinne geschärft und man war in der Lage, all das zu erkennen.
»Du spinnst!«, schalt Hiske sich selbst. »Es kann nicht sein!« Sie versuchte, einen weiteren Schritt zu tun, aber sie war wie erstarrt. Sie irrte nicht. Es waren dieselben Augen. Die Gedanken ratterten wild durch ihren Kopf, sprangen gegen die Schädeldecke, sodass sie fürchtete, sie könne platzen. Es dauerte eine Weile, Hiske konnte nicht sagen, wie lange sie still dagestanden hatte, bis sie wieder klar und gezielt denken konnte. »Ich fasse es mal zusammen«, sagte sie zu sich selbst. »Ich werde also von einem Menschen verfolgt, der nicht mit mir Schritt halten kann und einen schlurfenden Gang hat. Ein Mann, der dieselben Augen sein Eigen nennt wie der Mann, dem ich in Jever im Kerker auf Gedeih und Verderben ausgeliefert war. Der alles zerstört hat, was man in einem jungen Leben zerstören kann.«
Hiske hielt in ihrem Monolog inne, musste tief durchatmen. Zu ungeheuerlich war das, was sich nun vor ihrem inneren Auge abspielte. »In der Neustadt ist mir dieser Fremde begegnet, der mich eigenartig angesehen hat. Und ihm fehlte ein Bein. Das war durch Holz ersetzt.« Hiske schluckte, als ihr die nächsten, entscheidenden Worte wie von selbst über die trockenen Lippen flossen. »Und es waren dieselben Augen wie damals. Diese Tiefe, dieses Blau. Ich wollte es nicht wahrhaben. Aber er ist es. Ihn genau meinte bestimmt auch Lina, als sie vom Satanshelfer sprach.« Denn auf niemanden, den die Hebamme kannte, traf ein solcher Vergleich besser zu.
Hiske suchte nach einem Baum, etwas, wo sie sich
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