Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
Fleisch und surrte anschließend singend davon. Gesättigt und zufrieden.
Jan deckte den Jungen zu, nahm einen winzigen Schluck Wasser aus dem Schlauch. Nur so viel, bis der schlimmste Durst vorbei war. Er schloss die Augen, lauschte in den Abend. Das Lied der Mücken war angeschwollen, immer mehr kamen aus ihren Verstecken, tanzten, saugten, summten. Riesige Schwärme drehten ihren Reigen vor Jans Augen, die er nach einiger Zeit schloss, weil sie die Schwere des Augenblickes nicht mehr ertrugen.
Jan wusste nicht, wie lange ihn der Schlaf gnädig von allen Gedanken befreit hatte, aber nun fröstelte er. Diese feuchte Kälte war beinahe noch unangenehmer als die Hitze zuvor. Der Wortsammler lag apathisch und mit viel zu schnellem Atem neben ihm. Seine Temperatur war entschieden zu hoch. Jan musste hier raus, er musste ihn in Sicherheit bringen. Auch wenn er in der Neustadt nicht viel mehr gegen das Fieber tun konnte. Hiske aber hatte von Kräutermischungen erzählt, die sie zusammen mit Garbrand ausprobiert hatte. Veilchen kamen darin vor oder Salbei, den schon Karl der Große im gesamten Fränkischen Reich hatte anbauen lassen. Und noch andere Kräuter, die Jan nicht alle geläufig waren. In einigen Fällen war die Hitze danach gesunken.
Ihm selbst war die gute Wirkung des weißen Senfs zugetragen worden, aber das hatte Jan der Hebamme noch nicht sagen können. Gemahlene Senfkörner als Kompresse, aber auch als Fußbad. Er wollte alles versuchen, um das Leben des Knaben zu retten. In seiner Kammer bei Schemering bewahrte er ein kleines Säckchen Senf auf. Er hatte es für ein kleines Vermögen bei einem Gewürzhändler in Emden erstanden. Nur würde ihm all das nichts nützen, wenn er nicht aus dem Moor herausfand. Jan stützte den Knaben, versuchte, ihm Wasser aus dem Schlauch einzuflößen. Aber der Wortsammler kniff den Mund zusammen, wollte nichts trinken. Er schlug ein paarmal mit dem Kopf hin und her, fiel wieder in einen Schlaf, der immer stärker den Anschein machte, als wolle er ihn nicht hergeben.
Jan kramte in seinem Beutel, holte einen Streifen Speck heraus, dazu einen Kanten Brot und einen schrumpeligen Apfel, der schon länger darauf wartete, endlich verzehrt zu werden. Mehr Vorräte hatte er nicht. Es erschien ihm wie die Henkersmahlzeit, und es fühlte sich nicht gut an. Er aß erst den Speck mit dem Brot, überlegte, ob er mit dem Apfel noch warten sollte, denn wenn er ihn jetzt verdrückte, hatte er nur noch das restliche Wasser. Unschlüssig betrachtete er das Stück Obst. Sein Magen knurrte, er konnte nicht widerstehen. Immerhin musste er genügend Kraft haben, den Wortsammler nach Hause zu schleppen. Jan hieb die Zähne gierig in die Frucht. Obwohl die Haut des Apfels schon sehr faltig wirkte, überraschte Jan das saftige Fruchtfleisch. Er glaubte, schon lange nicht mehr so etwas Köstliches zu sich genommen zu haben. Jeden Bissen genoss er, sog den Geschmack des Apfels auf, verschlang auch das Kerngehäuse. Es war gut gewesen, ihn zu essen. Morgen früh würde er den Weg finden. Ganz bestimmt würde er das. Diese letzte Nacht konnten sie noch überleben. Was hatten sie auch für eine Wahl.
Hiske beschleunigte ihren Schritt. Jemand verfolgte sie, das war keine Einbildung, das war die Wirklichkeit. Schritt, Schleifen, Schritt. Ganz regelmäßig. Immer ihrem Takt folgend. Zwischendurch überlegte sie, ob es besser wäre, umzudrehen, zurück in die sichere Neustadt zu eilen, doch dann müsste sie an ihrem Verfolger vorbei, der das vermutlich nicht zulassen würde. Sie war schon zu weit gelaufen, ihre Rufe konnte keiner mehr hören.
»Ich will nicht länger in dieser abgelegenen Kate wohnen«, murmelte sie. »Es ist gut, dass ich bald von hier verschwinde, dann muss ich auch nicht bei Krechting um eine Kammer in der Neustadt betteln.« Nun rannte sie, der Verfolger kam nicht mehr mit. Jedenfalls war das Schlurfen verstummt, als sie an der nächsten Kurve innehielt, weil ihr die Luft knapp wurde. Sie beugte sich leicht vor, wartete, bis ihre Lungen nicht mehr brannten und ihr Herzschlag sich beruhigte. Erst dann richtete Hiske sich auf, starrte in die Dunkelheit und schärfte ihre Ohren für jedes Geräusch, das sie nicht der Nacht zuordnen konnte. Es blieb still, sie hatte ihren Verfolger abgeschüttelt. Hiske fragte sich, warum er so rasch aufgegeben hatte, und kam zu dem Entschluss, dass er sie entweder nur erschrecken wollte oder aber körperlich nicht in der Lage war, mit ihr Schritt zu
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