Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
keinen befestigten Untergrund mehr, waren sie wieder da. Die schlurfenden Schritte, die sie verfolgten.
Garbrand saß in seinem Wagen an der Burg Gödens. Er hatte gepackt, denn morgen konnte er eine Kammer in der Neustadt beziehen, hatte Schemering zu ihm gesagt. Der Burghof war leer geworden, doch weil noch immer Flüchtlinge in Gödens ankamen, konnte Hebrich noch nicht alle Menschen von dort in die Neustadt verbannen. Der Bau des Fleckens und des Siels schritten aber merklich voran. Die Menschen wollten die Neustadt, und dafür schufteten sie Tag und Nacht.
Garbrand hatte ein schlechtes Gewissen Hiske gegenüber. Er war schuld daran, dass der Wortsammler einfach so das Weite gesucht hatte, denn er war ihm anvertraut gewesen. Stattdessen war er mal wieder nicht Herr über seine Erinnerungen geworden und hatte dem Genever zu sehr zugesprochen. Nun saß er auf seinen gepackten Sachen und wartete darauf, dass der nächste Tag anbrach. Ein Tag, den alle im Lager und in der Neustadt begannen, als sei nichts geschehen, und doch wusste jeder, dass sie ignorierten, was passiert war. Der Wortsammler war seit drei Tagen verschwunden, und Friso van Heek hatte in ihrem neuen Siel sein Leben gelassen. Sicher zu Recht, denn ein Mann wie er zog eine lange Spur der Vernichtung hinter sich her. Eine Spur, an der Blut klebte, Hass und Verderben. Es gab im Leben des Kaufmannes nichts, was er ausgelassen hatte. Weder an guten noch an schlechten Dingen. Da man aber mit dem Schlechten sehr viel weiterkam, hatte das am Ende bei ihm überwogen. Garbrand kannte Menschen wie ihn. Klar war nur: Einer aus der Herrlichkeit war van Heeks Mörder.
Als sich Friso van Heek und er damals in England trennten, hatte er so gehofft, diesem Mann nie mehr begegnen zu müssen. Was für ein Schreck, als es ihm dann gerade in dieser Abgeschiedenheit passieren musste. Erst hatte er geglaubt, dass er sich täuschte, doch schon bald erkannte er, dass es war, wie es war. Garbrand hatte die Faust in der Tasche geballt und musste sich beherrschen, nicht auf den Mann zuzustürzen. Er wollte ihn zermalmen, töten. Unschädlich machen. Doch er war Christ, er durfte so etwas nicht. Aber er war auch Mensch …
Amsterdam 1532
Das Mädchen freut sich, weil Amilia ihr in Amsterdam auf dem Markt ein Stück Seife gekauft hat. Anschließend zeigt sie ihr, wie man den Waschzuber füllt. »Du darfst baden, so oft du möchtest«, sagt sie. »Mir ist wichtig, dass du glücklich bist.«
Glück ist ein Wort, das dem Mädchen fremd ist. Das hat es mal gegeben, vor langer Zeit, als Mutter noch lebte und der Meerkristall noch Wirkung zeigte.
Amilia verlangt, dass sie mehr lernt. Jeden Morgen muss das Mädchen, nachdem sie den Kräutergarten, die Ziege und die magere Kuh versorgt und beide gemolken hat, in die Küche kommen. Sie scheuert den Tisch mit Sand und wartet darauf, dass Amilia sich zu ihr setzt. Die hat ein Blatt Papier, eine Feder und ein Buch dabei. »Ein Buch ist wertvoll, darauf müssen wir achtgeben«, sagt Amilia und streicht über den Rücken, der aus bunt gemustertem Leinen besteht.
Das Mädchen lernt nun, Buchstaben aneinanderzureihen, zu lesen und zu schreiben. Auch, dass die Zahlen eine logische Reihenfolge bilden, dass man sie voneinander abziehen und wieder addieren kann, ist ihm bald nicht mehr fremd. Es macht ihr sogar große Freude, und schon bald beeilt sie sich mit der Stallarbeit, weil sie sich so sehr auf das Lernen freut. Es dauert nicht lange, bis sie schneller rechnet als Amilia, doch die lacht darüber und freut sich. »Es ist wichtig, dass du das kannst. Das wird dir im Leben viel erleichtern.«
»Jetzt kann ich Bader werden, jetzt kann ich rechnen.«
Über Amilias Gesicht gleitet ein Schatten. Sie nimmt das Mädchen in den Arm. »Du bist klug. Du kannst rechnen und lesen, du kennst die Kräuter. Aber du bist immer noch eine Frau. Ein Weib aber darf kein Bader sein, Meisje.«
Amalia nennt sie immer Meisje, will so gern ihren echten Namen herausfinden. Das Mädchen aber schweigt, obwohl sie ihn manchmal träumt, ihn doch nicht völlig vergessen hat. Aber es ist, als schlafe er unter meterdicken Kissen, die besser genau dort bleiben, wohin man sie gelegt hat. Mit dem Namen verbindet sie Angst, Schrecken und Blut. Er soll zugedeckt bleiben. Wenn die Kissen fort sind, wird das Unglück ein weiteres Mal über sie hineinbrechen. Dabei herrschen jetzt Ruhe und Frieden. Das Mädchen will genau das festhalten. Mit aller Macht. Es hat die Jungs
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