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Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall

Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall

Titel: Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Regine Kölpin
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niederlassen konnte, damit sie das, was sie nun glasklar erkannte, auch begreifen konnte. Ein paar Schritte weiter vorn reckte eine Birke ihre Zweige in die Luft. Hiske schleppte sich dorthin, umfasste die glatte Rinde, genoss den Trost, den sie dabei empfand.
    Sie wurde tatsächlich vom Scharfrichter aus Jever verfolgt. Alle Erinnerungen an ihn und diese Zeit hatte sie verdrängt und hatte sie nie wieder zulassen wollen. Es war besser, die Vergangenheit in die Tiefen der Seele zu verbannen. Aber auf eine nicht zu erklärende Weise wurde man doch immer wieder von ihr eingeholt. Es waren nicht nur die grausamen Schmerzen, die sie mit der Zeit im Kerker verband, es war auch das Gefühl des völligen Ausgeliefertseins, die Abgabe jeglicher Kontrolle über das, was andere Menschen von nun an mit ihr taten und auch tun durften. Die fehlende Möglichkeit, sich zu wehren und etwas beeinflussen zu können. Hiske hatte im Kerker des Jeverschen Schlosses zum ersten Mal nicht nur das Böse in anderen Menschen gesehen, sondern wirklich auch daran geglaubt.
    Ihr ganzes Weltbild war danach ins Wanken geraten, was sicher auch seinen Teil dazu beitrug, dass sie fortan keinem, auch Jan nicht, vorbehaltlos vertrauen konnte. In Hiske war etwas zerbrochen, das noch immer in winzigen Scherbensplittern in ihr vorhanden war und sie täglich ein wenig verletzte, auch wenn sie dessen nur manchmal gewahr wurde.
    Jetzt war dieses Gefühl wieder da. Abrupt. Nah. Grausam. Es lähmte sie. Der Mann, dem sie das alles zu verdanken hatte, war ihr auf den Fersen. Warum auch immer er jetzt nur noch ein Bein hatte und sie ihn deshalb nicht gleich erkannt hatte. Den Mann, der sie auf dem Scheiterhaufen brennen sehen wollte, ihn mit Wonne angesteckt und ihre Schreie als Schlaflied genossen hätte. Der Mann, der den Strohhaufen weit genug weg von ihr platziert hatte, dass sie ihn erahnen, aber nicht nutzen konnte und tagelang auf dem kalten Steinboden hatte sitzen müssen, bis ihr Unterleib so entzündet war, dass sie nur unter Blut und Schmerzen urinieren konnte. Der Mann, der die Metallschellen extra festgezogen hatte, sodass die Narben bis zum heutigen Tag sichtbar waren. Der Mann, dem allein ihre völlige Erniedrigung der größte Spaß von allem war.
    Sie war wieder dort, von wo sie vor langer Zeit geflohen war. Alles hatte sie eingeholt und drohte sie nun wie eine riesige Welle zu überrollen. Vor diesem Mann gab es kein Entrinnen. Er würde sie verfolgen, bis er die Toversche im ewigen Fegefeuer wusste. Er war es, der die Hexenprobe in der Toverschen Graft am Schloss Jever vorangetrieben hatte. Er war gescheitert, und das würde er ihr niemals verzeihen, vermutlich war er deswegen hier. Nie hätte er damit gerechnet, dass sich tatsächlich jemand für sie verbürgte.
    Hiske trauerte bis heute um Theda Eylert, die ihr Leben für diese Bürgschaft lassen musste. Auch dafür hatte der Scharfrichter gesorgt. So etwas konnte er nicht ungesühnt lassen. Und was aus den Reitern geworden war, die sie in der Nacht ihrer Flucht nicht erwischt hatten, wollte sie gar nicht wissen.
    Hiske katapultierte sich in die Gegenwart zurück, versuchte sich darauf zu konzentrieren, wie ihr nächster Schritt sein musste, damit sie ihrem Peiniger kein zweites Mal in die Hände fiel. Sie ließ die Baumrinde los und streckte den Oberkörper durch. Diese Bewegung ließ die innere Kraft in ihr strömen, beruhigte das Durcheinander der Gedanken. Sie schwebte in größter Gefahr, und auch, wenn sie den Scharfrichter vorerst abgehängt hatte, würde er seine Verfolgung nicht aufgeben. Sie musste zusehen, dass sie schnellstmöglich nach Hause kam. Sie würde die Tür verriegeln, sich dahinter verbarrikadieren und hoffen, dass Jan und der Wortsammler in nicht allzu ferner Zeit aus dem Moor zurückkamen. Vorausgesetzt, der Arzt fand den Knaben. Warum nur hatte sie Garbrand nicht erlaubt, über sie zu wachen? Für einen Augenblick überlegte sie, zum Burghof zu laufen. Garbrand würde erst morgen in die Neustadt übersiedeln, und mit etwas Glück war das Burgtor noch auf.
    Hiske bekam ihre Angst nicht mehr unter Kontrolle. Ihr Herz klopfte nun so stark, dass sie glaubte, es spränge ihr zum Hals heraus. Die Panik aus vergangenen Zeiten machte sich in ihr breit. Die Angst, die sie nie wieder haben wollte. Warum nur hatte sie die Augen dieses Mannes nicht gleich in der Neustadt erkannt? Die Augen, die mit jedem Blick deutlich machten, dass sie nur ein Ziel kannten: Rache.
    Hiske

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