historical 176 - Meer der Sehnsucht.doc
nach oben zu klettern. Das Meer war noch immer aufgewühlt, der Regen hatte kaum nachgelassen. Jedes Mal, wenn Ambrosia nach oben schaute, um zu sehen, wie weit sie noch zu klettern hatte, peitschte der Regen ihr ins Gesicht. Zu den Unbilden des Wetters kam noch, dass die Seile, an denen sie sich ent langhangelte, steif und nass waren. Schon bald brannten ihre Handinnenflächen wie Feuer.
Von seinem Platz am Steuerrad aus beobachtete Riordan mit einer Mischung aus schlechtem Gewissen und Bewunderung, wie sich Ambrosia immer höher voranarbeitete. Um nichts auf der Welt hätte er sie in Gefahr bringen wollen. Doch mit ihrer Verstocktheit und Aufsässigkeit trieb sie ihn zu Handlungsweisen, die ihm sonst fremd waren.
Er warf einen verstohlenen Blick auf Newton, der ebenfalls besorgt verfolgte, was oben in der Takelage geschah. Der junge Randolph, den Riordan auch hinaufgeschickt hatte, schien Schwierigkeiten mit den Verstrebungen zu haben. Ambrosia erkannte dieses sofort und schwang sich zu ihm hinüber. Gemeinsam gelang es ihnen, die Verknotungen in den Seilen zu lösen.
Als die beiden sich an den Abstieg machten, atmete Riordan erleichtert auf. Newton zwinkerte ihm zu, wandte sich ab und fuhr mit seiner Arbeit des Deckschrubbens fort.
Wenig später stand Ambrosia neben Riordan. Sie hob das Kinn und fragte herausfordernd:
„Soll ich sonst noch etwas tun, bevor ich zum Essen unter Deck gehe, Captain?"
Da mehrere Seeleute in Hörweite standen, begnügte er sich mit einem Schulterzucken und der Bemerkung: „Keine weiteren Befehle, Matrose Lambert. Zumindest im Augenblick nicht." Und als sie sich zum Gehen wandte, fügte er halblaut hinzu: „Du und Randolph habt gute Arbeit geleistet."
Ambrosia machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten.
„Da drüben liegt sie." Newton zeigte mit einer Hand auf das leckgeschlagene, manövrierunfähige Schiff, das einige Hundert Yards vom Ufer entfernt lag. Er löste die Riemen um die aufgerollte englische Fahne und zog diese hoch, bis sie, noch über dem höchsten Segel, wild im Wind flatterte.
Kurze Zeit später kletterte auf dem gestrandeten Schiff ein Matrose am Mast hoch und schwenkte eine Laterne. In der einsetzenden Dunkelheit war ihr Licht deutlich erkennbar.
„Sie haben uns als Landsleute erkannt. Wir sollen an Bord kommen." Newton stand neben Riordan, der die Undaunted auf das Ufer zusteuerte. „Der Meeresgrund hier ist tückisch. Es gibt so manche Untiefen", erklärte der alte Mann.
„Du hast Recht", stimmte Riordan zu. „Schick ein paar Männer in die Takelage. Sie sollen nach jedem noch so kleinen Anzeichen für Gefahr Ausschau halten."
„Aye, aye, Captain." Nachdem Newt den Befehl ausgeführt hatte, schlug er ruhig vor:
„Vielleicht sollte Ambrosia das Steuer übernehmen. Sie kennt sich mit diesem Landstrich aus, ist sie doch schon seit Kindertagen immer mitgesegelt."
„Nanu, Newton! Was ist los? Hast du kein Vertrauen mehr zu mir?"
„Das hat damit nichts zu tun. Aber wir haben schon viel Zeit durch den Sturm verloren. Es wäre doch mehr als ärgerlich, wenn wir jetzt womöglich auf Grund laufen oder unser Schiff durch Felsen unter der Wasseroberfläche beschädigen würden."
„Wir schaffen das schon", entgegnete Riordan. „Aber vier Augen sehen mehr als zwei.
Also schick Matrose Lambert hierher auf die Brücke."
Es dauerte nicht lange, und Ambrosia erschien. „Sie haben mich holen lassen, Captain?"
„Newt hat mir erzählt, du würdest diese Gewässer kennen."
„Ja, allerdings."
„Dann möchte ich, dass du hier neben mir bleibst. Wenn du siehst, dass wir Schwierigkeiten bekommen könnten, wirst du auf der Stelle laut und warnend rufen.
Verstanden?"
„Aye, Captain."
Ambrosia sah angestrengt auf das dunkle Wasser. Dennoch war es ihr unmöglich, Riordan nicht zu beachten. Er strahlte so viel Kraft und Macht aus. Noch nie hatte sie, mit Ausnahme ihres Vaters, einen Mann gekannt, der seiner selbst so sicher war.
„Jetzt ist die ungünstigste Tageszeit, in Gewässern dieser Art zu navigieren", erklärte sie leise. „Die Sonne ist bereits untergegangen, daher ist es unmöglich, jede verborgene Gefahr rechtzeitig zu entdecken. Wusstest du schon, dass mehr Schiffe an dieser Küste auf Grund gelaufen sind als an den übrigen Küsten Englands insgesamt?"
„Ja." Riordan schaute nach wie vor, ohne mit der Wimper zu zucken, geradeaus. Er wollte sich auf gar keinen Fall von Ambrosias Anwesenheit ablenken lassen. Gleichzeitig genoss er
Weitere Kostenlose Bücher