HISTORICAL Band 0264
sie hatte gerade einen großen Kredit bei der Bank aufgenommen, um ihr Geschäft weiter anzukurbeln. Sie war von ihren Investoren abhängig. Wie leicht konnte man sie finanziell ruinieren …
Sie schloss die Augen, atmete einmal tief durch und schlug die Augen wieder auf. Jack Kestrel betrachtete sie mit dem gleichen rätselhaften Gesichtsausdruck, den sie schon einmal an ihm wahrgenommen hatte. Ihr Herzschlag stockte kurz und normalisierte sich dann wieder.
„Ihre Drohungen sind sehr heftig, Mr. Kestrel“, sagte sie so ruhig wie möglich. „Das alles hat nichts mit mir zu tun, und doch wollen Sie, dass ich dafür büße. Das ist nicht das Verhalten eines Gentlemans.“
Jack zuckte die Achseln. „Ich spiele das Spiel nach den Regeln, die man mir gesetzt hat, Miss Bowes. Es war Ihre Schwester, die den Einsatz erhöht hat.“
Sally presste die Hände zusammen. Sie sah keinen Sinn darin, weiter zu streiten; er würde keine Zugeständnisse machen. „Nun gut“, antwortete sie. „Wenn Sie mir ein paar Stunden Zeit geben, mich um die Angelegenheit zu kümmern …“
„Eine Stunde. Ich gebe Ihnen genau eine Stunde.“
„Aber ich brauche mehr Zeit! Ich weiß nicht, wo Connie …“, entfuhr es ihr unbedacht.
„Also ist Connie die ‚schöne Miss Bowes‘?“ Jack zog die Brauen hoch. „Aber natürlich.“ Er zog einen Brief aus seiner Manteltasche und faltete ihn auseinander. „Die Unterschrift beginnt mit einem C. Das hätte mir früher auffallen müssen.“
„Wirklich, Sie hätten sich besser vorbereiten sollen, ehe Sie mit wilden Anschuldigungen um sich werfen!“, beschwerte Sally sich. „Sie sind äußerst unhöflich, Mr. Kestrel.“
Jack lachte, faltete den Brief zusammen und steckte ihn wieder ein. „Ich bin eben direkt, Sally. Das ist einer meiner Vorzüge.“
Sein warmer Tonfall und die Art, wie er ihren Namen aussprach, ließen ihr Herz schneller schlagen, trotzdem konnte sie sich diese Vertraulichkeit nicht gefallen lassen. „Ich habe Ihnen nicht gestattet, mich mit dem Vornamen anzusprechen, Mr. Kestrel!“, fuhr sie ihn an.
„Nein?“ Er warf ihr einen spöttischen Blick zu. „Ich räume ein, Sie scheinen doch Wert auf Formalitäten zu legen. Müssen Ihre Gäste Sie auch mit Miss Bowes anreden?“ Er machte ein nachdenkliches Gesicht. „Aber ich vermute, ein Hauch Strenge ist für einige von ihnen sogar ganz reizvoll, wenn damit noch ein Rohrstock und leichte Züchtigungen einhergehen.“
Wieder spürte Sally, wie ihr die flammende Röte in die Wangen schoss. Jack Kestrel war nicht allein mit seiner Annahme, der Blue Parrot Club wäre ein Freudenhaus der gehobenen Kategorie. Selbst Sally hatte öfter den Verdacht, dass ein paar der Mädchen eigene Wege mit ihren Gästen beschritten. In der Anfangszeit hatte sie aus Sorge um ihre Sicherheit versucht, die Mädchen davon abzuhalten, nicht nur ihre Gesellschaft, sondern auch ihre Körper zu verkaufen, aber schließlich hatte sie begriffen, dass sie nur wenig dagegen tun konnte. Daraufhin hatte sie es zur Bedingung gemacht, dass so etwas wenigstens nicht in ihrem Haus geschah. Trotzdem machte sie sich Sorgen um die Mädchen und wusste, dass diese zwar gerührt waren von ihrer Anteilnahme, sie aber doch für naiv hielten. Sally glaubte das manchmal selbst von sich. Sie lebte in einer glitzernden, aufregenden Welt, aber ihre Schwester behauptete, sie hätte die Moralvorstellungen einer viktorianischen Jungfer.
„Sie ziehen da einige falsche Schlüsse, Mr. Kestrel“, erwiderte sie kalt. „Die einzige teure Ware, die unsere Gäste hier im Haus kaufen können, ist Champagner. Ich muss schließlich an meine Lizenz denken. Ich bin die Eigentümerin des Blue Parrot, Mr. Kestrel, und das bedeutet, dass ich nicht mehr bin als eine bessere Buchhalterin.“ Wieder zeigte sie auf den Stapel Rechnungen und Aufträge auf ihrem Schreibtisch. „Wie Sie sehen können.“
Jack lachte leicht verbittert. „Ich nehme die Beteuerung Ihrer Tugendhaftigkeit zur Kenntnis, Miss Bowes.“
„Sie verstehen nicht ganz“, fauchte Sally. „Ich brauche mich vor Ihnen nicht zu rechtfertigen, Mr. Kestrel, ich wollte nur etwas klarstellen.“
Er neigte den Kopf zur Seite. „Und Ihre Schwester? Sie arbeitet doch gewiss nicht ebenfalls hier im Büro?“
„Sie ist eine unserer Animierdamen“, erklärte Sally. „Deren Aufgabe ist es, mit den Gästen zu plaudern und sie zu ermuntern, Geld auszugeben.“
„Eine Aufgabe, auf die Ihre Schwester sich meisterhaft
Weitere Kostenlose Bücher