HISTORICAL Band 0264
Frau verwickelt gewesen war, ins Ausland verbannt worden. Zehn Jahre später war er zurückgekehrt und hatte es zwischenzeitlich zu einem eigenen Vermögen gebracht.
Sally verstand, wie er zu seinem Ruf gekommen war. Er hatte in der Tat eine unglaublich maskuline Ausstrahlung. Die Frauen lagen ihm scharenweise zu Füßen, aber Sally hatte nicht vor, sich ihren Reihen anzuschließen.
Ihr wurde bewusst, dass sie ihn immer noch anstarrte. Ihre Wangen begannen zu glühen, und sie wandte den Blick von seinem Mund, um ihm in die Augen zu sehen. Sein Blick war ausgesprochen unfreundlich. Ohne nachzudenken, wich sie zurück und merkte, dass ihm ihre Reaktion nicht entging. Er richtete sich auf und entfernte sich ein paar Schritte vom Schreibtisch.
Dieses Mal trug er keine Abendkleidung, und Sally fand, dass man ihn in seiner jetzigen Aufmachung kaum für einen der üblichen Kunden des Blue Parrot Club halten konnte. Der Club sprach eigentlich die unverschämt reichen Mitglieder der Gesellschaft um König Edward an, die vom müßigen Leben gezeichnet waren, oder mondäne amerikanische Besucher, deren Geld und Einfluss in London mehr und mehr eine Rolle spielten. Gelegentlich wurde der Club auch von den Soldatensöhnen des alten Adels besucht, die lautstark ihren Fronturlaub feierten. Von seinem Aussehen her hätte Jack Kestrel früher auch beim Militär gewesen sein können – er hatte eine lange Narbe auf einer Wange – und machte durchaus den Eindruck, dass er sich an irgendeiner Front oder in Südafrika wohler gefühlt hatte als in einem Club in der Nähe des Strands. Er war sehr groß, breitschultrig und braungebrannt, und Sally schätzte ihn auf ungefähr dreißig. Statt Abendgarderobe trug er einen langen dunkelbraunen Ledermantel über einem Anzug, der so lässig elegant wirkte, dass er nur aus der Savile Row stammen konnte. Trotz seiner Größe bewegte er sich mit einer geschmeidigen Anmut, die alle Blicke auf sich zog. Als er sich jetzt zu Sally umdrehte, fiel ihr plötzlich das Atmen schwer. Von Jack Kestrel ging unbestritten eine gefährlich männliche Ausstrahlung aus, seine Züge waren hart und kompromisslos.
„Ich bitte um Verzeihung, dass ich Sie geweckt habe“,sagte er gedehnt. „Ich vermute, in Ihrem Beruf müssen Sie zusehen, dass Sie Ihren Schlaf bekommen, wann immer Sie eine Gelegenheit dazu finden.“
Darauf konnte Sally sich keinen rechten Reim machen. Die Buchhaltung machte ihr zwar Spaß, aber sie fand sie nicht so fesselnd, dass sie sich davon vom Schlafen abhalten ließ. Sie war nur deswegen so müde, weil sie in der vergangenen Nacht noch spät in der Wallace Collection gewesen war und früh wieder hatte aufstehen müssen, um die letzten Renovierungsarbeiten am Purpursalon zu überwachen. Die Arbeiten hatten sechs Monate gedauert und sollten – wenn alles gut ging – in einer Woche abgeschlossen sein. Die Veränderungen würden sicher das Stadtgespräch in London werden, und selbst der König hatte versprochen, an der Feier zur Wiedereröffnung teilzunehmen.
„Sie sind doch Miss Bowes?“, fragte Jack Kestrel nach, als Sally immer noch nichts sagte. Jetzt hörte er sich an, als wäre er allmählich mit seiner Geduld am Ende.
„Ich … Ja, natürlich. Das sagte ich Ihnen bereits gestern Abend.“ Sally räusperte sich. Sie merkte selbst, dass sie ein wenig unsicher klang. Ganz gewiss nicht wie die energische Eigentümerin des erfolgreichsten und modernsten Clubs in ganz London. Einst, vor langer Zeit, in den eleganten Salons von Oxford war sie tatsächlich Miss Bowes gewesen, die älteste Tochter der Familie und Schwester von Miss Petronella und Miss Constance. Doch seitdem war viel geschehen.
Unter Jack Kestrels unbeirrbarem Blick fühlte sie sich jünger als ihre siebenundzwanzig Jahre, viel jünger und seltsam verwundbar. Sie setzte sich gerade hin, strich sich das wirre Haar aus dem Gesicht und hoffte inständig, dass die Tintenflecken, die sie an ihren Fingern entdeckte, nicht auf ihre Stirn abgefärbt hatten. Es machte sie wütend, derart überrumpelt worden zu sein. Normalerweise zog sie ein Abendkleid an, ehe der Club öffnete, aber dazu war sie nicht gekommen, weil sie eingeschlafen war und niemand sie geweckt hatte.
„Was kann ich für Sie tun, Mr. Kestrel?“ Sie schlug einen betont geschäftsmäßigen Ton an. Ihr war längst klar geworden, dass dies kein gesellschaftlicher Besuch war, gedacht als Fortsetzung ihrer Begegnung in der letzten Nacht. Wie kurz und reizvoll
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